100. Geburtstag von Renate Wagner-Rieger

Vor hundert Jahren, am 10. Jänner 1921, wurde Renate Wagner-Rieger in Wien geboren. Vor 50 Jahren wurde sie der erste weibliche "Ordentliche Universitätsprofessor" für Kunstgeschichte an der Universität Wien (Foto). Es war daher ein Gebot der Stunde, die Leistungen dieser Wissenschaftlerin im Rahmen einer Tagung zu würdigen, nachdem immerhin einer der Durchgänge des Universitätscampus nach ihr benannt worden ist. Coronabedingt wird diese Veranstaltung vom Frühjahr auf Mitte November 2021 verschoben – und rückt damit in eine sinnvolle Nähe zur 21. Internationalen Tagung des Verbandes Österreichischer Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen  Why Have There Been no Great Female Art Historians?

Zur Vorbereitung der von Ingeborg Schemper-Sparholz, Julia Rüdiger, Caroline Mang und Werner Telesko geplanten Konferenz vom 11. bis 13. November am Institut für Kunstgeschichte bewilligte die Kunsthistorische Gesellschaft einen Werkvertrag mit Frau Mag. Caroline Mang zur Neuinventarisierung des Nachlasses der Professorin in unserem Institutsarchiv. Der sehr umfangreiche Bestand (26 Kartons und mehrere Ordner) umfasst sowohl persönliche Dokumente als auch Vorlesungsmanuskripte, Korrespondenz, Sonderdrucke und wissenschaftliches Arbeitsmaterial. Die detaillierte Erschließung ermöglicht auch eine einfachere Vorbereitung der Vorträge zu vielen Themen der Veranstaltung. Um einen Einblick in die Bandbreite der Quellen zu geben, seien hier einige hervorgehoben.

Dem „Ahnenpass“ können wir etwa entnehmen, dass Renate Wagner-Rieger eine „echte Wienerin“ war, da der Großvater väterlicherseits aus Ungarn, der Vater der Mutter hingegen aus Böhmen nach Österreich zugewandert war. Eines der ältesten Dokumente ist ebenfalls genau hundert Jahre alt und sei der aktuellen Diskussion wegen erwähnt, nämlich die Bestätigung der Blatternimpfung des Säuglings vom 4. August 1921 (Foto).

Die offensichtlich vollständig erhaltene Schulzeugnisse verraten, dass Renate Rieger nicht in allen Fächern gute Lesitungen erbrachte. Die Tochter des technischen Direktors einer Radiofabrik (der jedoch in seiner Freizeit auch die Malerei pflegte) schlug zunächst eine Bürolaufbahn ein und arbeitete von 1939 bis 1944 als Sekretärin bei einem Patentanwalt. Das von der Mutter stammende musikalische Talent kultivierte sie damals mit einer Gesangsausbildung, und das Zeugnis ihrer Lehrerin Emilie Auer Weingärber vom 5. Dezember 1944 bescheinigte der angehenden Kunsthistorikerin einen „vollen wohlklingenden Mezzosopran, der Stimmumfang ist gross“, und es seien „alle Voraussetzungen gegeben, die Laufbahn einer Sängerin mit Erfolg einschlagen zu können".

Nach der Externistenmatura im Jahr 1942 hatte Renate Rieger jedoch ihr Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie an der Universität Wien begonnen, wofür u.a. einen „Ariernachweis“ zu erbringen war. Das Studienbuch (Foto) belegte u.a. Lehrveranstaltungen bei den Archäologieprofessoren Camillo Praschniker („Olympia u. Delphi“) und Rudolf Egger sowie bei der „Dozentin (Hedwig) v. Kenner“ (bei der auch der Autor dieses Textes noch eine Vorlesung absolvierte) und bei den Historikern Reinhold Lorenz und Heinrich Ritter v. Srbik („Die deutsche Geschichtsschreibung im 19. u. 20. Jh.“). In der Kunstgeschichte standen die Vorlesungen „Deutsche Kunst des frühen und Hohen Mittelalters“ und „Gotische Malerei“ von Prof Karl Oettinger, “Geschichte der byzantinischen Kunst“ von Prof. Wladimir Sas-Zaloziecky, „Grundfragen des christl. Kirchenbaues“ von Prof. Anselm Weissenhofer sowie „Die Europäische Kunst im 19. Jahrh." von Prof. Bruno Grimschitz. Beim damaligen Institutsvorstand Hans Sedlmayr absolvierte Rieger die Vorlesungen „Europäische Kunst“, „Grundfragen der Kunstgeschichte“ sowie „Das Geschichtsbild der Kunstgeschichte“. Vermerkt sind auch die Studiengebühren, die nach der Anzahl der besuchten Lehrveranstaltungen berechnet wurden. 1944 schrieb Renate Rieger ihre Aufnahmearbeit über das 1945 im Stephansdom verbrannte „Wimpassinger Kreuz“. Im selben Jahr wurde Renate Rieger als Flakhelferin dienstverpflichtet, und war dann am Institut als unbezahlte wissenschaftliche Hilfskraft für die Bibliothek tätig.

Nach dem Krieg absolvierte sie Lehrveranstaltungen der Kunsthistoriker Karl Maria Swoboda, Otto Demus sowie Fritz Novotny und schloss das Studium 1947 mit der Promotion über das Wiener Wohnhaus ab (Foto). Im selben Jahr inskribierte Renate Rieger auch Jus, hat aber offensichtlich keine einzige Vorlesung besucht und statt dessen 1950 die Staatsprüfung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung abgelegt. Dafür wurde sie von ihrem Kurskollegen Franz Gall mit einer Wappenurkunde in den „Conventus Monasterii Sancti Sickelii“ (nach dem prägenden Institutsdirektor Theodor von Sickel) aufgenommen (Foto). Damals gab es auch schon erste professionell vervielfältigte Skripten.

Renate Rieger war nach Ihrer Promotion am Institut angestellt worden, und der Geschichtsforschungskurs war damals eine Voraussetzung einer Universitätskarriere in der Kunstgeschichte. Ebenso wichtig waren Auslandsaufenthalte, und für ihre Habilitation über den mittelalterlichen Kirchenbau in Italien arbeitete Renate Rieger u.a. auch an den deutschen kunsthistorischen lnstituten in Florenz und Rom. Vom Aufenthalt an der Bibliotheca Hertziana hat sich etwa eine Einladung zu einem Abendessen bei Graf und Gräfin Wolff Metternich erhalten.

Bald aber verlagerte sich das Forschungsinteresse von der mittelalterlichen und neuzeitlichen Architektur auf jene des 19. Jahrhunderts. Zeitbedingt – die Nachkriegsmoderne in Österreich und die sozialistische Stadtpolitik in Wien mißachteten vor allem die sanierungsbedürfte Bausubstanz des Historismus besonders, aber auch die frühen Moderne wie des Wittgensteinhauses führte ein Schattendasein (Foto) – ging mit der wissenschaftlichen Beschäftigung der Kampf um die Erhaltung der Denkmäler einher. Bereits 1960 veröffentlichte Renate Wagner-Rieger einen Artikel in der Tageszeitung „Die Presse“ unter dem bezeichnenden Titel „Der absurde Amoklauf gegen das Ornament. Das entblättern der Hausfassaden führt noch nicht zu einer modernen Stadt“ (Foto). Als in den 1970er Jahren ein Umdenken einsetzte und erste Fußgängerzogen in den Innenstadt entstanden (Foto), war die Professorin vielfach als Gutachterin und Beraterin in architektonischen Beiträten der Stadt aktiv.

Ebenfalls schon 1960 wurde die Kunsthistorikerin von Kardinal Franz König in die „Wiener Katholische Akademie“ berufen (Foto) und nahm später auch an einer Diözesansynode teil.  Es ist daher wohl kein Zufall, dass einer ihrer Zwillingssöhne die geistliche Laufbahn einschlug und ebenso wenig, dass er heute Moderator des Pfarrverbandes Göllersdorf und Dechant des Dekanates Hollabrunn ist. Denn den geistigen Mittelpunkt der Pfarre bildet das von Johann Lucas von Hildebrandt für Reichsvizekanzler Karl Friedrich von Schönborn erbaute Gotteshaus und zuvor hatte Michael Wagner der ebenfalls von Hildebrandt geplanten Piaristenkirche in Wien seine theologische Dissertation gewidmet.

Die Ernennung von Renate Wagner-Rieger zur Inhaberin eines Lehrstuhles war um 1970 allerdings keine Einzelfall im Bereich der Wiener Kunstgeschichte. So wurde Margarethe Poch-Kalous (1915-1974) bezeichnenderweise im Jahre 1968 offiziell zur Direktorin der Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste ernannt, die sie seit 1957 bereits interimistisch geleitet hatte. Schon 1967 war Friederike Klauner (1916-1993) zur Direktorin der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums bestellt worden, und als erste Frau stand sie von 1973 bis 1981 an der Spitze dieser altehrwürdigen Institution. Die gleichaltrige Eva Frodl-Kraft (1916-2011) leitete hingegen von 1972-1979 das Institut für österreichische Kunstforschung am Bundesdenkmalamt und Alice Strobl (1920-2010) wirkte von 1971 bis 1984 als Vizedirektorin der Albertina.

Die Ursache für diesen „feministischen“ Wandel bildete wohl einerseits der mit dem Jahr 1968 einsetzende politische Schwung, die Wahl von Dr. Bruno Kreisky zum Bundeskanzler im Jahr 1970 und damit auch die Ernennung der Historikerin Dr. Hertha Firnberg zum ersten "Wissenschaftsminister" Österreichs. Das verstärkte Engagement von Frauen im Wissenschaftsbetrieb war aber wohl auch eine Folge der Einberufungen und Kriegsverluste sowie der Emigration vieler jüdischer Kunsthistoriker. So hatten die meisten der genannten Kunsthistorikerinnen bereits während des Zweiten Weltkrieges als Flakhelferinnen, als „Wissenschaftliche Hilfskräfte“ oder Mitwirkende bei den Kriegsverlagerungen von Kunstwerken und Bibliotheken erste Erfahrungen in den von Männern dominierten Bereichen des Militärs und der Wissenschaft sammeln können und viele zuvor meist Männern vorbehaltene Funktionen übernommen.

Die Lehrtätigkeit der Außerordentlichen und Ordentlichen Professorin kann ebenfalls vollständig nachverfolgt werden, sind doch alle ihre Vorlesungsmanuskripte samt den dazugehörigen Lehrveranstaltungskalendern erhalten (Foto).

Nach den Tagungen über die Gründungsväter der Wiener Schule der Kunstgeschichte und nach mehreren Dissertationen über die „Zweite Wiener Schule“ der 1930er Jahre, bietet sich nunmehr die Möglichkeit, den Blick auf die Nachkriegskunstgeschichte in Österreich zu lenken.

Friedrich Polleroß  Fotos: Institut für Kunstgeschichte