Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert: Internationales Kolloquium des Forschungszentrums für Buchmalerei (Pächt-Archiv)

Am Wiener Institut für Kunstgeschichte fand vom 28. bis zum 30. Juni 2017 ein Kolloquium statt, das der Bild- und Buchkultur des 13. Jahrhunderts gewidmet war. Es gehört zu einer Reihe von Veranstaltungen zur mittelalterlichen Buchmalerei, die im Rahmen der Projekte im Forschungszentrum für Buchmalerei des Instituts (Pächt-Archiv) seit 2007 stattfinden. Die Initiative ging von Michaela Schuller-Juckes und Christine Beier aus, Anlass und Ausgangspunkt war das vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderte Forschungsprojekt zu den illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Graz.
Das 13. Jahrhundert brachte für Europa grundlegende Veränderungen mit sich, die im Rückblick als Epochenwechsel empfunden werden, als Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter, von der Romanik zur Gotik. Ziel des Kolloquiums war es, die Entwicklungstendenzen in der Bild- und Buchkultur dieser für Europa entscheidenden Phase in den Blick zu nehmen, deren Beginn durch so gegensätzliche Ereignisse wie die Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer und die Gründung der ersten Universitäten markiert wird, und deren Dynamik in Hinsicht auf die Buchkultur u. a. durch die zunehmende Lesefähigkeit und den Anstieg der Literaturproduktion in bisher unbekanntem Ausmaß bestimmt wurde. Für das Kolloquium waren vier Schwerpunkten gesetzt worden: Bildlichkeit und Emotion, Transfer, Arbeitsmethoden (Technik, Vorlagen, Organisation) und Illustration der (neuen) Texte sowie Veränderungen in der Funktion der Bücher.
1. Ein wesentlicher Aspekt der Veränderungen in der Bildkultur des 13. Jahrhunderts ist die Darstellung von Emotionen, die besonders in der Kathedralplastik eine neue Qualität gewann, aber auch im Zackenstil eigenen Ausdruck fand. Diesem Thema waren vier Vorträge gewidmet: Paul Binski (Cambridge) fragte im Eröffnungsvortrag des Kolloquiums, ob und wie die Kunst, im Besonderen die Portalplastik, auf die zeitgenössischen Betrachter wirkte und zog Texte zur Rhetorik aus Antike, Mittelalter und Neuzeit heran. Inwiefern können wir begründete Aussagen darüber machen, was die Betrachtung des Westportals von Autun oder des Jungfrauenportals des Erfurter Doms beim Publikum auslöste, welche Botschaft vermittelt werden sollte und an wen sie gerichtet war? Michael A. Michael (London/Glasgow) widmete sich dem in England aufkommenden „Sweet Style“, der wegen seiner ästhetischen Qualitäten geschätzt wurde, aber auch der emotionalen Aufladung von Bildern diente, wie er am Beispiel von Kreuzigungsdarstellungen in englischen Handschriften des 13. Jahrhunderts darlegte. Michael Viktor Schwarz (Wien) verknüpfte ebenfalls das Formale und dessen Wirkung. Anhand der Miniaturen des Goldenen Mainzer Evangeliars und der mosaizierten Höllendarstellung des Florentiner Baptisteriums behandelte er den Performanz-Aspekt des Zackenstils und fragte nach den Voraussetzungen in Byzanz und Venedig.
2. Die Faszination, die das Fremde auslöste und zu dessen Anverwandlung führte, war ein wichtiger Motor der kulturellen Entwicklung Europas. Der Transfer von Ideen, Können, ikonographischen Mustern, stilistischen Eigentümlichkeiten u. a. fand sowohl geographisch als auch innerhalb der Medien statt, wie eine ganze Reihe von Vorträgen des Kolloquiums zeigten, die damit den größten Schwerpunkt bildeten. Michaela Schuller-Juckes (Wien) veranschaulichte am Beispiel von drei französisch- italienischen Handschriften, wie die Zusammenarbeit von Illuminatoren aus unterschiedlichen Regionen funktionieren konnte und welche Auswirkungen künstlerische Vielfalt und das Interesse an fremden Entwicklungen auf das Erscheinungsbild einer Handschrift hatten. Beatrice Alai (Padua) konnte nachweisen, dass die Ausstattung des Evangelienteils der Bibel des Enrico de´ Cerchi - ein Produkt der Buchmalerei Paduas - als ein „artistic panorama“ aus regionalen, französischen und byzantinischen Einflüssen erklärbar ist. Als mögliche Vorbilder für die (anverwandelte) byzantinische Formensprache führte sie etwa die Fresken von Santa Sofia und San Benedetto in Padua an. Dass Austausch nicht nur in Süd- und Südwesteuropa stattfand, machte Dušan Buran (Bratislava) deutlich. Er präsentierte das frisch restaurierte Retabel aus Vojňany/ Krig (Zips) und spannte anhand von Werken, die hinsichtlich Form und Funktion Gemeinsamkeiten aufwiesen, einen Bogen von Skandinavien bis Italien. Um die Verbreitung ikonographischer Muster ging es im Beitrag von Katharina Hranitzky (Wien). Im Zentrum ihres Vortrags stand eine Handschrift aus Baumgartenberg, in der das „Compendium in Genealogia“ des Petrus von Poitiers von Tugenden- und Lasterschemata sowie von einer Darstellung der von Christus hinterfangenen Welt mit Personifikationen der zwölf Winde begleitet wird. Es konnte gezeigt werden, dass dieser Codex einigen weiteren Abschriften des Werks als direkte oder indirekte Vorlage diente. In zwei dieser Handschriften ist die Weltdarstellung sogar in derselben Weise ausgestaltet wie im Baumgartenberger Codex, zudem findet sich eine entsprechende Miniatur auf einem Einzelblatt. Alle betreffenden Exemplare des Compendiums stammen aus Klöstern des österreichisch-bayrischen Raumes, die entlang der Donau gelegen sind.
3. In zwei weiteren Vorträgen standen die Arbeitsmethoden der Buchmaler im Vordergrund. Stella Panayotova (Cambridge) präsentierte Ergebnisse technologischer Analysen von Malmaterialien. Sie erläuterte, welche Effekte durch unterschiedliche Farbmischungen oder Bindemittel erreicht werden konnten. Am Beispiel von verschiedenfarbigen Untergründen von Goldfolie lässt sich die regionale Experimentierfreude einzelner Buchmaler feststellen. Harald Wolter-von dem Knesebeck (Bonn) beschäftigte sich mit Möglichkeiten der Verwendung von Musterbüchern und deren Wandel, u. a. am Beispiel des Reiner Musterbuches. Gleichzeitig machte er deutlich, welche Rolle sie für den kulturellen Transfer spielten. Für die Rolle von Byzanz als richtungsweisend in der Entwicklung der europäischen Kunst im 13. Jahrhundert – vor dem Hintergrund der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer 1204 – ist das Wolfenbütteler Musterbuch (um 1230) ein zentraler Beleg. Es enthält Abzeichnungen venezianischer und Konstantinopler Monumentalmalerei (zum Beispiel die Anastasis-Darstellung der Chora Kirche), die von der Hand eines reisenden Künstlers, ähnlich einem Villard de Honnecourt, stammen. Diese Vorlagen finden sich in sächsischer Buch- und Wandmalerei verarbeitet. Auf organisatorische Aspekte bei der Herstellung von Buchmalerei ging Christine Beier (Wien) ein. Sie sprach zu den Anfängen der kommerziellen, außerklösterlichen Buchherstellung im deutschsprachigen Mitteleuropa, für die in der Forschung die Produktion von illuminierten Psaltern in Augsburg und die Regensburger Buchmalerei der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts als Beispiele angeführt wurden.
4. Der vierte Themenkomplex war dem Phänomen der „Literaturexplosion“ des 13. Jahrhunderts und dessen Folgen für die Handschriftenausstattung gewidmet: Es entstanden nicht nur neue geistliche Texte in Latein, sondern auch weltliche Literatur in den Landessprachen. Die Buchmaler waren damit vor die Aufgabe gestellt neue Bildprogramme zu entwerfen. Die Vortragenden haben in diesem Zusammenhang eine Reihe von Fragen anhand markanter Werke diskutiert: Wie sind die Buchmaler vorgegangen? Welche bildlichen Erzählstrategien wurden für neue Texte gefunden? Brachten die neuen Inhalte Veränderungen im Gebrauch von Büchern mit sich? Inwieweit existierte ein Bewusstsein für die mediale Funktion des Buches als Objekt, jenseits der Bewahrung eines bestimmten Textes? Evelyn Kubina (Wien) legte am Beispiel der Münchner Weltchronik des Rudolf von Ems, einem der frühesten illustrierten Beispiele dieses Werkes, dar wie die Buchmaler beim Entwurf des Bildprogramms vorgegangen sind, dessen Ikonographie aus der Bibelillustration schöpft, doch dessen Layout die Funktion des Buches als Werk für einen höfischen Rezipientenkreis definiert. Susanne Wittekind (Köln), die sich mit nordspanischen Rechtshandschriften und deren Ausstattung befasste, stellte die dort zu beobachtenden Strategien zur Visualisierung der Rechtsordnung vor. David Ganz (Zürich) beleuchtete die performative und ikonographische Dimension von Apokalypsehandschriften im Hinblick auf gemalte und reale Buchöffnungen. Es zeigte sich dabei ein äußerst bewusster Umgang mit dem Medium Buch, dessen unterschiedliche Bedeutungs- und Funktionsebenen in den Illustrationen der Apokalypsehandschriften reflektiert wurden. Der Vortrag von Christine Jakobi-Mirwald (Weiler) war dem Weingartner Berthold Sakramentar gewidmet, einem in jeglicher Hinsicht herausragenden Werk, das einen zur Zeit seiner Entstehung bereits nicht mehr gebräuchlichen liturgischen Text enthält. Ihm wurde u. a. durch die künstliche Anbringung von Alterungsspuren wie genähten Rissen ein altehrwürdiges Aussehen verliehen, das für Gebrauch und Status dieser Handschrift offensichtlich wichtig war.
Den Abschluss des dreitägigen Kolloquiums bildete ein Besuch in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Es wurden mehrere Handschriften des 13. Jahrhunderts gezeigt, darunter das Reiner Musterbuch, welches am Vortag Thema war. Wie für die vorangegangenen Kolloquien ist eine Publikation der Vorträge geplant.
Sophie Dieberger   Fotos: Sophie Dieberger, Karl Pani