Gustav Klimt, die „Philosophie“ und Franz Wickhoff

Der seltene Fall, dass ein Kunsthistoriker zum Rektor der Universität Wien gewählt wird, bietet den Anlass auf ein bemerkenswertes Ereignis der Universitäts- und Kunstgeschichte vor mehr als hundert Jahren zurück zu blicken, nämlich den Skandal um die Fakultätsbilder von Gustav Klimt in den Jahren 1900-1905. Der im Vorjahr restaurierte „Große Festsaal“ im Universitätshauptgebäude ist seit 2007 mit Fotoreproduktionen der ursprünglich an der Decke geplanten Gemälde von Gustav Klimt versehen (Abbildung).
Erst zehn Jahre nach der Fertigstellung des Gebäudes von Heinrich von Ferstel erhielten 1894 Franz Matsch und Gustav Klimt den Auftrag, Ölgemälde für die Decke des Festsaales anzufertigen. Die zuständige „Artistische Kommission“ der Universität Wien plante ein zentrales Gemälde von Matsch („Triumph des Lichtes über die Finsternis“) sowie vier Allegorien der Fakultäten. Da Klimt, der drei der vier „Fakultäten“ malen sollte, seinen Stil in den nächsten Jahren veränderte, legte er der Kunstkommission des Ministeriums und der „Artistischen Kommission“ der Universität Wien neue Entwürfe vor, die von zahlreichen Professoren aufgrund des Stils und der Darstellung nackter Figuren abgelehnt wurden. Als 1900 die erste symbolistische Fassung der „Philosophie“ in der „Secession“ präsentiert wurde, verstärkte sich die Gegnerschaft und 87 Mitglieder des Professorenkollegiums unterzeichneten eine Petition an Unterrichtsminister Wilhelm von Hartel, in der sie gegen die Anbringung des Gemäldes in der Universität auftraten. In den Medien gab es jedoch auch Befürworter.
Im Institutsarchiv haben sich im Nachlass des damaligen Ordinarius für Kunstgeschichte Franz Wickhoff (Abbildung) Dokumente erhalten, die Details zu diesem „Kunstskandal“ liefern und erstmals 1986 von Edwin Lachnit im "Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte" publiziert worden sind. Wickhoff war nicht nur für die Etablierung von Methoden für das Fach wichtig, sondern betätigte sich auch als Amateurmaler. Als sein wissenschaftliches Hauptwerk gilt die „Wiener Genesis“. Angeregt vom modernen Impressionismus sprach Wickhoff auch dem Stil der frühchristlichen Purpurhandschrift eine künstlerische Leistung zu. Das Buch hatte der Kunsthistoriker 1895 gemeinsam mit dem Altphilologen Wilhelm von Hartel verfasst, der 1900-1905 das Amt des Unterrichtsministers und damit Auftraggebers Klimts bekleidete.
Mit dem 23. März 1900 ist ein von elf namhaften Professoren unterzeichnetes Rundschreiben an den sehr geehrten „Herrn Collega“ datiert, welches zur Petition gegen Klimts „Philosophie“ aufruft (Abbildung). Unterschrieben hatten folgende Wissenschafter: der Gynäkologe und Vorstand der II. Frauenklinik Rudolf Chrobak; der Physiker Franz Exner, der sich in seinem Spätwerk mit der Theorie von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ beschäftige; der Chirurg Carl Gussenbauer; der liberale Philosoph und Psychologe Friedrich Jodl, der nicht nur 1867 in München Kunstgeschichte studiert und nach 1896 an der Technischen Hochschule Wien Ästhetik unterrichtet hat, sondern auch als Lehrer des progressiven „Wiener Kreises“ bekannt geworden ist; der Jurist Heinrich Lammasch, seit 1899 Ordentliches Mitglied des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag und 1918 letzter Ministerpräsident der Monarchie; der Physiker Viktor von Lang, 1915-19 Präsident der Akademie der Wissenschaften; der aus dem jüdischen Geldadel stammende Chemiker und Leiter des II. Chemischen Universitätslabors Adolf Lieben; der Heiligenkreuzer Zisterzienser und Theologe sowie Archäologe Wilhelm Anton Neumann, der seit 1899 das Amt des „Rector magnificus“ ausübte; der Klassische Philologe und Archäologe Emil Reisch, der als Schüler von Hartels und Nachfolger von Otto Benndorf zum Leiter des Österreichischen Archäologischen Instituts ernannt, 1907 gegen den Wiener Bürgermeister Lueger zu Felde zog und 1916 zum Rektor gewählt wurde; der Anatom Carl Toldt, der 1897-98 das Amt des Rektors ausgeübt hatte; und schließlich der Astronom Edmund Weiss, der Direktor der Universitätssternwarte.
Am 26. März veröffentlichte die „Neue Freie Presse“ einen Bericht über den anlässlich der Ausstellungseröffnung in der Sezession vorgelegten Protest gegen das Gemälde und berichtete über das „große Aufsehen“ der Affäre, die Seriosität der unterzeichneten Professoren, aber auch die unterschiedlichen Urteile über die „Philosophie“. Betont wird darin, dass sich der Protest vor allem gegen das nicht zum Renaissancecharakter des Gebäudes passenden Stil richtet. Professor Jodl betonte in seiner Stellungnahme, dass man nicht „gegen die nackte und nicht gegen die freie Kunst kämpfe, sondern gegen die häßliche Kunst“ (Abbildung).
Am 30. März 1900 informierte die „Neue Freie Presse“ abermals über die Aktivitäten der Professorenschaft: „Die Petition von Universitäts-Professoren gegen die Anbringung des Klimt'schen Bildes im Festsaale der Universität wird morgen zur Unterzeichnung in Umlauf gesetzt. Zugleich mit der Petition, welche bereits siebzig Zustimmungserklärungen von ordentlichen und außerordentlichen Professoren der Universität gefunden hat, versenden die Professoren Franz Exner, Friedrich Jodl und Emil Reisch ein ausführliches Begleitschreiben, in dem sie ihre Stellung präcisiren. Es hat folgenden Wortlaut: ‚Am 24. März ist von uns und acht Collegen […] eine private Zuschrift ergangen, die zunächst nur den Zweck verfolgte, die anderen Collegen zur Besichtigung und Beurtheilung des Bildes einzuladen. Dieses Rundschreiben ist durch eine bedauerliche Indiscretion vorab in entstellter Form der Oeffentlichkeit übergeben und von einem Theile der Presse zum Gegenstände einer vorzeitigen Discussion gemacht worden. Bevor unsere ausführliche Motivierung vorlag, sind uns Unterstellungen sonderbarster Art gemacht worden, deren Absichten klarzulegen wir unterlassen dürfen.... Man hat uns beschuldigt, ein Attentat auf die Freiheit der Kunst unternehmen zu wollen, und so ist der ganze Wortschatz, mit dem in den letzten Wochen die Lex Heinze bekämpft wurde, ein zweitesmal an verkehrter Stelle gegen uns verwendet worden. Wir vertrauen darauf, daß Niemand, der nicht der Art und den Zielen der Universitätslehre vollkommen entfremdet ist, ernstlich den Gedanken hegen wird, Vertreter der freien Wissenschaft könnten jemals in irgend einer Form eine Einschränkung der Freiheit der Kunst beabsichtigen. Aber wie die Freiheit der Kunst wollen wir auch die Freiheit der Kritik gewahrt wissen und erachten Jene als bedenkliche Nothhelfer der Freiheit der Kunst, die unsere Künstler von den einer ehrlichen Kritik entspringenden Vortheilen abschneiden wollen. Das Schlagwort, daß die Kunstwerke nur von Künstlern beurtheilt werden können, ist bedenklich, nicht nur darum, weil Jene, die es ausgeben, auch den Namen eines Künstlers auf die Anhänger einer einzelnen Richtung eingeschränkt wissen wollen, sondern vor Allem darum, weil eine Kunst, die nur von Künstlern verstanden und gewürdigt werden will, sich selbst von der Ausschmückung aller für Nichtkünstler bestimmten Räume ausschließen würde. Man hat den Unterzeichnern der Petition des Weiteren unterschoben, der Protest gegen das Klimt'sche Bild sei gegen die Moderne, gegen die Secession gerichtet. In dem vom Parteiwesen zerklüfteten Wien wird leider Gottes auch die Kunst von so Vielen als Parteisache behandelt. Wenn die Einen in kenntnisarmer Naivetät sich verpflichtet glauben, alles Neue für gut zu halten, ist es den Anderen Gewohnheit, alles Ueberkommene in bequemer Beschränkung für sacrosanct zu erklären. Der Name der ‚Secession‘ oder der Künstlergenossenschaft wird wie eine Art Stampiglie betrachtet, die dem einzelnen Bilde den Zoll der Bewunderung von Seite der zugehörigen Gruppe von ‚Kunstverständigen‘ sichert. […] Wir haben es einzig und allein mit dem einen Bilde zu thun und mit der einen Frage, ob der Künstler damit die ihm gestellte Aufgabe in befriedigender Weise gelöst hat oder nicht. Wir haben weder ein allgemeines Urtheil über die Kunstrichtung, der das Bild zugerechnet werden will, abzugeben, noch fällt es uns bei, das Gesamtschaffen oder die künstlerische Persönlichkeit Klimt's anzutasten. Unter den Unterzeichnern der Petition befinden sich in gleicher Weise Vertreter conservativer Kunstanschauungen wie Anhänger jener Richtungen, die vor Jahren in Deutschland zur Gründung der sogenannten Secession geführt haben. Aber eben weil wir, von verschiedenen theoretischen Grundauffassungen ausgehend, uns doch der praktischen Beurtheilung des Einzelfalles zusammengefunden haben, glauben wir, eine Gewähr dafür zu haben, daß nicht Liebe oder Haß für die eine oder die andere Kunstrichtung unser Urtheil einseitig beeinflußt hat. […] Wir haben keinen der Collegen, der aus irgend welchen Gründen sich eines Urtheiles entschlagen zu müssen glaubt, gedrängt, unserer Meinung beizutreten. Wie jeder Hausherr, der sich nicht das Recht eigener Meinung in künstlerischen Dingen zuerkennt, den Schmuck seines Hauses dem Gutdünken Anderer überlassen wird, so mögen auch unter den Collegen manche darauf verzichten, über die Ausschmückung unseres festlichen Versammlungssaales eine Ansicht zu äußern. Aber die Thatsache, daß zu der beabsichtigten Petition schon binnen wenigen Tagen siebzig zustimmende Erklärungen vorliegen, hat unsere Erwartung bestätigt, daß eine große Anzahl von Collegen in dieser Frage nicht den Standpunkt gleichgiltigen Gewährenlassens theilt. Ob unser Votum sich Geltung verschaffen wird, vermögen wir heute noch nicht vorauszusehen. […] Die ‚Philosophie‘ von Klimt bleibt nur noch bis Sonntag in der Secession ausgestellt. Am Montag geht das Bild nach Paris zur Weltausstellung. Der Professor der Kunstgeschichte an der Wiener Universität Dr. Franz Wickhoff hat von Rom aus, wo er sich gegenwärtig aufhält, an den Rector Professor Dr. Wilhelm Neumann ein Telegramm gerichtet, worin er in sehr scharfen Ausdrücken die Agitation gegen Klimt's Bild mißbilligt und für dieselbe den Rector persönlich verantwortlich macht.“
Das Telegramm Wickhoffs an den Rektor bzw. dessen Konzept blieb ebenfalls erhalten (Abbildung): „Lese von trauriger Hetze gegen Klimts kunstreiches prächtiges Bild und ihren nichtigen läppischen Vorwänden. Protestiere dagegen als Professor der Kunstgeschichte an unserer Universität, die diese alte Institution [?] entwürdigt, vor dem Ausland lächerlich macht und die die kunstbegeisterte Jugend ihren Lehrern entfremden muß. Wenn Magnifizenz zu schueren aufhören, wird der alberne Rummel bald zu Ende sein.“ Wickhoff, der wesentlich zur Etablierung der Kunstgeschichte als Wissenschaft beigetragen hat, pochte also auch in dieser Angelegenheit auf seine Fachkenntnis und war damit nicht allein.
Denn am 31. März erhielt Wickhoff in Rom ein Telegramm vom Privatrechtler Max Eugen Burckhard, der 1890-98 das Burgtheater geleitet hatte und mit Hermann Bahr einer der Unterstützer der „Secession“ und deren Zeitschrift „Ver Sacrum“ war (Abbildung): „Habe Dich schon Anfang der Woche aufgesucht um im Auftrag von Zuckerkandl Schauta Bernatzik Deine Unterschrift zu einem Gegenprotest zu erbitten der sich dagegen wendet, dass Professoren die Entscheidung in einer künstlerischen Frage zu beeinflussen suchen und darauf hinweist dass man Klimts Bild nur als Theil der Gesamtcomposition an seinem Bestimmungsort endgiltig beurteilen kann und dem Urteile der Professoren von Laien groessere Bedeutung beigemessen werden koennte, als ihm, da ja die Professoren in dieser Frage selber Laien sind, zukommt. Erbitte Telegramm ob ich deinen Namen beifuegen darf was uns alle herzlichst freuen wuerde. Burkhard Frankgasse“. Auch bei diesen Verteidigern Klimts handelte es sich um renommierte Vertreter der Wissenschaft: Emil Zuckerkandl war Leiter des Anatomischen Instituts der Universität Wien, seine Gattin Bertha Zuckerkandl-Szeps eine der bedeutendsten Gastgeberinnen in Wien um 1900 und der Mediziner war ebenso wie seine Brüder ein Förderer Klimts; der Gynäkolologe Friedrich Schauta kooperierte als Leiter der I. Universitätsfrauenklinik beruflich sowohl mit dem oben genannten Petitionisten Chrobak als auch mit Sigmund Freud; der Jurist Edmund Bernatzik war 1896/97 Dekan der juridischen Fakultät gewesen und wurde 1910 zum Rektor der Universität Wien gewählt.
Erst am 4. April erhielt Wickhoff in Rom den am 26. März abgesandten Brief des Archäologen Robert von Schneider, der als Direktor der Antikensammlung mit Wickhoff und Julius von Schlosser befreundet war (Abbildung): „Lieber Wickhoff, besten Dank für Ihren Brief. […]. Von dem albernen Rummel gegen Klimt haben sie wol in den Zeitungen gelesen. Sieben Naturforscher und Mediziner in ihrem seichten Verstande neben einigen Philisterseelen, denen in ihrer Gewöhnlichkeit nie bange wird, gehen den Pfaffen auf den Leim. Der eine (wol Chrobak) findet es unerhört, daß in dem Bilde der coitus, den sein unsauberes Auge sofort erkannte, dargestellt sei. Toldt, der immer nur den toten Körper kennt, entdeckte anatomische Fehler – und Jodl zieht in den Kreuzzug gegen das ‚Häßliche‘. Ich höre, daß auch Lanckoronski, der doch sich einen Freund der Secession nennt, und der verstorbene Dumba sich in der Ausstellung sehr mißgünstig über das Gemälde äußerten. Herrn Klimt hätte ich allerdings viel von seiner abstrusen Symbolik nachgelassen, aber gleichwol ist sein Werk ein coloristisches Prachtstück. Der farbenblinde Pöbel vermag weder das Bild noch den Text, der es begleitet und allerdings zum ‚auswachsen‘ ist, zu verstehen. Da Sie nicht hier sind, Riegl es sich bisher noch nicht einmal angesehen hat, so glaube ich nicht zögern zu sollen, diesen Leuten, denen die Lex Heinze in den Gliedern liegt, meine Meinung zu sagen. Ich sandte dem Rector einen Brief, dessen Concept ich ihnen sende. Zahm ist er gerade nicht, was Sie hoffentlich von mir auch nicht erwarten. Die Schärfe meiner Worte wird Sie nicht verletzen. Meine lieben Alten liegen mir zuviel in den Ohren, als daß ich den hier so beliebten Waschlappenstil zu schreiben vermöchte. Benndorf steht trotz Exners und trotzdem ihm das Bild sehr wenig behage, an meiner Seite. Er findet meinen Brief sehr scharf, aber gut. Für Sie, der Sie das fertige Bild nicht sehen können, ist es schwer einzutreten. Gleichwol möchte ich Ihnen nahelegen, auch Ihrerseits sich zu äußern, etwa durch ein geharnischtes Telegramm an den Rector. […] In treuer Freundschaft Ihr Schneider“.
Der am 30. März von Emil Reisch abgesandte Brief anlässlich der oben zitierten gegensätzlichen Stellungnahmen in der „Neuen Freien Presse“ traf ebenfalls erst am 4. April in Rom ein: „Verehrter Freund, […] Wären Sie hier, so hätten Sie sich gewiss nicht […] für ein Bild eingesetzt, über das Sie nicht günstiger urteilen würden als ich“ und dass „es aus Gründen der Kunstpolitik nicht zweckmässig ist, in künstlerischen Dingen Petitionen zu unterschreiben […]. Ich habe recht harmlos meinen Namen unter den Aufruf jener gesetzt, die ihren Mißfallen über das Bild Ausdruck geben – ohne zu ahnen, welcher Rattenschwanz von Zeitungsartikeln daran sich schliessen würde. Aber da ich nun einmal unterschrieben war, schien es mir das Beste, auf die Redaction der Petition Einfluss zu nehmen, um Entgleisungen zu vermeiden. - Abgesehen von Schneider (und natürlich von den Herren Servaus, Muther u.ä.), der das Bild in höchsten Tönen feierte (Sie haben wohl nur die kleine Skizze gesehen?) kann sich niemand für das geplante Deckengemälde begeistern, selbst die jungen Kunsthistoriker, die anfangs über die bösen Professoren sehr erbost waren, weil sie darin einen Angriff gegen Secession sahen (so wie wohl auch Sie aus der römischen Vogelperspektive?) wollen dem Bilde nur seine ‚Daseinsberechtigung‘ gewahrt wissen. Das will ich auch – nur die Dortseinsberechtigung an der Decke der Aula ist mir zweifelhaft. Also nehmen Sie mir die Meinungsverschiedenheit nicht krumm – Sie würde sich, wie gesagt, wenn Sie hier gewesen wären, vermutlich auf ein Minimum reduziert haben. […] Ich muss jetzt leider in eine Gesellschaft gehen – seien Sie in Eile herzlichst und bestens gegrüßt von Ihrem freundschaftlich ergebenen Ernst Reisch“.
Ein weiterer Brief ist undatiert und wurde durch die Initialen sowie den Kontext von Lachnit als Schreiben des Kunsthistorikers Friedrich Dörnhöffer gedeutet, der damals in der Graphischen Sammlung der Hofbibliothek (heute Albertina) für den Ankauf zeitgenössischer Graphik zuständig war: „Was haben Sie wohl zu der mehr komischen als tragischen Klimtaffaire gesagt? Die Verschwörung der 50 Professoren hat natürlich größeren Eindruck gemacht – das Bild ist von früh bis abends belagert. Die jüngeren Kunsthistoriker, im wesentlichen Ihre Schule, denen sich auch Folnesics anschloss, haben sich heute abend zusammengethan, um an den Vorstand der Secession eine gemeinsame Erklärung zu richten. Welche uns vor dem möglichen Verdacht einer Solidität mit den protestierenden Professoren schützen soll und – ohne Eingehen auf das Bild selbst – unsere Stellung zur Kunst der Gegenwart precisiert. Wir waren in der Lage, uns auf Argumente aus der Anti-Protest-Erklärung Prof. Riegls an den Rector zu stützen. In unserem Schreiben wurde auch Ihrer Abwesenheit gedacht und ausgesprochen, dass wir uns mit Ihnen principiell eins fühlen. Dürfen wir das? Sobald das Schreiben fertig ist, werden wir uns erlauben, ihnen eine Copie zu zusenden. […] Ergebenst Ihr Fr. Dffr.“
Zur Verteidigung des Gemäldes und seiner eigenen Argumentation hielt Franz Wickhoff nach seiner Rückkehr aus Italien am 9. Mai 1900 einen Vortrag unter dem Titel „Was ist häßlich?“, wie das „Fremdenblatt“ am 15. Mai seiner Leserschaft bekannt gab. Der Kunsthistoriker leitete dabei den Gegensatz schön-häßlich von der Biologie und den Empfindungen der Geschlechter für die Fortpflanzung ab: „Was für die Gattenwahl bevorzugt wurde, wurde auch vom Künstler bevorzugt als Vorwurf. So war den Gegenständen nach das Kunstschöne und das Naturschöne in allen Zeiten naiven Schaffens identisch“. Erst die Wissenschaften und die Intellektualität der modernen Kunst hätten dazu geführt, dass der Laie dazu neige, „ein Werk häßlich zu finden, wenn er es nicht gleich verstandesmäßig zergliedern kann. […] Selten, so schloß der Vortragende, ist der Wissenschaft von einem Künstler [= Klimt] so tief gehuldigt worden. Aus den Toren des Hauses, das ihr geweiht ist, sollte dieser großherzige Künstler vertrieben werden. Man sieht es, wie die Begeisterung ansteckend wirkt, so steckt auch die Mißgunst an. Wenn seinem Bilde [= Philosophie] einmal die Darstellung der Medizin zur Seite stehen wird, dann wird auch der immergrüne Schimmer des ersten Bildes in seiner dekorativen Wirkung ganz verständlich sein und es wird Niemand verfehlen, den Künstler zu preisen, der uns mit diesen herrlichen Werken beschenkt hat.“
Sogar das „Prager Tagblatt“ berichtete am 24. Mai über dieses Ereignis: „In der jüngsten Plenarversammlung der Philosophischen Gesellschaft der Wiener Universität wurde in die Discussion über einen in der vorigen Woche von Professor Wickhoff gehaltenen Vortrag über das Klimt'sche Bild ‚Die Philosophie‘ eingegangen. Der Referent Docent I. C. Kreidig wiederholte die bisher gegen das Bild geltend gemachten Argumente: Das Bild sei 1. nicht stylgerecht, 2. nicht verständlich. Der letztere Punkt sei vom Maler selbst dadurch ein¬ gestanden, daß er es für nothwendig fand, im Cataloge eine Erklärung des Bildes zu geben. Professor Wickhoff, der sich als Anhänger des Bildes bekannte und das¬ selbe für gelungen erklärte, erwiderte auf diese Bemerkung, das Catalogcomitä habe, unabhängig von dem Maler, die Erklärung zu dem Bilde in den Catalog gegeben. Im Uebrigen werde man sich von den Vorzügen des Bildes erst überzeugen, wenn es an seinem Bestimmungsorte angebracht sein werde. Ein Redner beantragte, daß das Bild probeweise an seinem Bestimmungsorte in der Aula angebracht werde, damit man sehe, welche Wirkung es als Deckengemälde hervorrufe. Mehrere Redner ziehen die auf dem Gemälde dargestellten Menschenleiber in Discussion und er¬ klärten dieselben als anatomisch unmöglich. Es zeigte sich, daß außer Professor Wickhoff nur noch ein Redner sich für das Bild aussprach, während alle Uebrigen gegen dasselbe Stellung nahmen.“
1903 waren die vier „Fakultätsbilder“ erstmals gemeinsam zu sehen. Die „Artistische Kommission“ der Universität stand Klimts Bildern nach wie vor kritisch gegenüber, beanstandete jedoch auch die mangelnde Qualität von Matschs Gemälde der Theologie. Vor allem passten die Bilder der beiden Künstler aus Sicht der Kommission nicht zueinander bzw. Klimts Gemälde nicht zum Neorenaissancestil der Architektur.
Aufgrund der langjährigen Auseinandersetzungen überlegte Gustav Klimt schließlich den Auftrag zurückzulegen, wie die Zeitschrift „Das Vaterland“ am 11. April 1905 mitteilte: „Aus akademischen Kreisen erfährt die ‚Wiener Hochschulkorrespondenz‘ zu dem Entschlusse des Malers Gustav Klimt, die vom Unterrichtsministerium bestellten Deckengemälde für die Wiener Universität nicht abzuliefern, folgendes: Der Künstler dürfte zu seinem Entschlusse wahrscheinlich dadurch gedrängt worden sein, daß die Anbringung der Deckengemälde im Festsaale der Wiener Universität in nahe Aussicht genommen worden ist. Die artistische Kommission des akademischen Senates der Wiener Universität, welcher die Professoren Hofrat Dr. Karl Toldt, Hofrat Dr. Gustav Ritter v. Escherich, Dr. Wilhelm Neumann, Dr. Friedrich Frhr. v. Wieser, Hofrat Dr. Viktor Ebner Ritter v. Rosenstein, Dr. Franz Wickhoff und als künstlerische Beiräte die Professoren Hofrat Dr. Otto Benndorf, Karl König und Ritter v. Zumbusch angehören, soll nun in einer kürzlich stattgefundenen Sitzung darüber einig geworden sein, sich dafür auszusprechen, die von Klimt hergestellten Deckengemälde nicht im Festsaale anbringen zu lassen. […] Da Matsch' großes Deckengemälde: ‚Der Sieg des Lichtes über die Finsternis‘ wahrscheinlich in den heurigen großen Ferien angebracht werden wird, scheint Klimt ein rasches Handeln in seiner Angelegenheit für notwendig gehalten und sich für die endgiltige Zurückziehung seiner Bilder entschlossen zu haben.“ Auch die Beteiligung von Fachleuten wie dem Archäologen Benndorf, dem jüdischen Architekten Karl König, der 1901/2 als Rektor der Technischen Hochschule fungierte, sowie von Caspar von Zumbusch, dem Akademieprofessor für Bildhauerei, führte also zu keinem Meinungsumschwung.
Das „Neue Wiener Tagblatt“ bot am selben 11. April 1905 einige weitere Informationen: „Die bereits gemeldete Rückziehung der für den Festsaal bestimmten Bilder Klimts durch den Künstler selbst wird nicht nur in künstlerischen Kreisen, sondern auch im großen Publikum lebhaft erörtert. Wir haben schon im Morgenblatte berichtet, daß die Unterrichtsverwaltung den Standpunkt einnehmen dürfte, daß Klimt den Auftrag, die drei Deckengemälde für den Festsaal fertigzustellen, übernommen und eine größere staatliche Subvention erhalten habe, infolgedessen auch verpflichtet sei, die Bilder abzuliefern. Eine definitive Entscheidung ist indes hierüber noch nicht gefallen und ist dieselbe auch nicht vor der Rückkehr des Unterrichtsministers Doktor R. v. Hartel, der sich derzeit zur Kur in Karlsbad befindet, zu erwarten. Dem Ministerium sieht wohl zweifellos das Recht zu, die Auslieferung der Bilder, für welche fast das ganze Honorar ausbezahlt wurde, zu verlangen und auf der Einhaltung des Betrages seitens Klimts zu bestehen, doch erscheint es immerhin fraglich, ob man den Künstler zur Ablieferung seiner Bilder zwingen und eventuell einen diesbezüglichen Prozeß einleiten werde. […] Wie man uns Mittags berichtet, ist Maler Klimt im Laufe des heutigen Vormittags bereits in den Besitz der Entscheidung des Unterrichtsministeriums in Angelegenheit seiner Bilder gelangt.— Hienach lehnt es das Ministerium ab, den seinerzeit seitens des damaligen Unterrichtsministers Grafen Bylandt-Rheidt mit dem Maler geschlossenen Vertrag aufzulösen und erklärt, daß eine einseitige Lösung des Vertrages, wie sie jetzt vom Künstler gewünscht werde, ausgeschlossen sei. Einer unserer Mitarbeiter, welcher heute mit Herrn Klimt zu sprechen Gelegenheit hatte, berichtet uns: Klimt erklärt unter Hinweis auf die Entschließung des Unterrichtsministeriums, daß er unter keiner Bedingung die Bilder dem Ministerium auszufolgen gedenke. Er würde, falls man darauf bestehe, nur der Gewalt weichen, der gegenüber er machtlos sei. Die Meldung, welche heute vorliegt, wonach die Bilder bereits an einen Privaten verkauft seien, sei völlig un¬begründet. Auf die Frage, was Klimt mit den Bildern, wenn schließlich das Unterrichtsministerium auf ihre Herausgabe nicht bestehen sollte, zu tun gedenke, antwortete der Künstler: ‚Hierüber habe ich noch keinen Entschluß gefaßt; wohl aber trage ich mich mit der Absicht, die Bilder, wenn die Angelegenheit mit dem Ministerium in meinem Sinne erledigt ist, zu veräußern.' Schließlich teilte Klimt noch mit, daß er bereits in den nächsten Tagen in einer Erklärung, deren Veröffentlichung er beabsichtige, die Gründe darlegen werde, weshalb er dem Ministerium die Bilder nicht ausfolgen wolle.“
Klimt überließ zwei der Gemälde schließlich der Familie Lederer, die den Vorschuss anstelle des Künstlers zurückgezahlt hatte. Nach der „Arisierung“ wurden die Fakultätsbilder Klimts erstaunlicherweise 1943 von den Nationalsozialisten für die Universität angekauft. Sie verbrannten jedoch 1945 im Kriegsdepot des Schloss Immendorf. 2021 wurden die Farben der zerstörten Fakultätsbilder Klimts im Zuge des digitalen Großprojekts „Klimt vs. Klimt“ des „Google Arts & Culture Department“ von Dr. Franz Smola im Belvedere nach den alten SW-Fotos mit moderner Technologie hypothetisch rekonstruiert (Abbildungen). Dabei zeigt sich, dass der rekonstruierte „meergrüne Schimmer“ der „Philosophie“ auch mit der Beschreibung von Franz Wickhoff im Jahre 1905 übereinstimmt!

Friedrich Polleroß  Fotos: Belvedere Wien/ Google Arts & Culture, Institut für Kunstgeschichte, Friedrich Polleroß, Universität Wien