Neue Literatur zur „Wiener Schule der Kunstgeschichte“
Im Jahre 2019 wurde an der Akademie der Wissenschaften in Prag eine umfangreiche Tagung zur „Wiener Schule der Kunstgeschichte“ abgehalten. Ein erster Teil der Referate wurde noch im Dezember 2019 in der Internetzeitschrift „Journal of Art Historigraphy“ veröffentlicht. Nach einem Tagungsbericht folgen sechs Aufsätze: Mitorganisator Tomáš Murár berichtet über den Einfluss der „Wiener Schule der Kunstgeschichte“ nach 1918 in der Tschechoslowakei, Wojciech Balus (Krakow) über jenen in Polen. Katja Mahnič (Ljubljana) referiert über den ersten slowenischen Absolventen, Josip Mantuani, während Dubravka Botica (Zagreb) den Wiener Einfluss auf die Erforschung des Barock in Kroatien analysiert. Unsere Institutsmitarbeiterin Yuka Kadoi hat einen Text von Josef Strzygowski über „Probleme der persischen Kunst“ ediert, und Peter Gillgren (Stockholm) den wegen seiner jüdischen Herkunft nach Schweden emigrierten Felix Horb vorgestellt.
Der zweite Block der Tagung „The influence of the Vienna School of Art History before and after 1918“ erschien in der Juni-Ausgabe des Jahres 2020. Marta Filipová (Brno) untersucht, wie auch die tschechischen Schüler der „Wiener Schule“ Riegls Interesse für die Volkskunst übernahmen, während Greta Monica Miron (Cluj-Napoca) den Nationalismus in der Methode des rumänischen Strzygowski-Schülers Coriolan Petranue am Beispiel der Holzkirchen beleuchtet. Rebeka Vidrih (Ljubljana) beschäftigt sich mit der Stilsystematik von Izidor Cankar, dem Schüler von Max Dvořák und Begründer der akademischen Kunstgeschichte in Slowenien. Michael Young (University of Connecticut, Storrs) analyisert hingegen den Wandel von Oskar Pollak, dem Mitschüler von Franz Kafka, vom deutschnationalen Prager zum internationalen Forscher in Wien und Rom vor dem Hintergrund der nicht nur an der Wiener Universität, sondern auch am Institut ausgetragenen Nationalitätenfrage. Eleonora Gaudieri, die in Prag über Alois Riegl referierte, hat inzwischen ihre bei Univ.-Prof. Dr. Sebastian Schütze geschriebene Dissertation „Alois Riegl und Die Entstehung der Barockkunst in Rom“ abgeschlossen.
Die Professoren Alois Riegl, Max Dvořák, Josef Strzygowski und Karl M. Swoboda sowie die Wiener Absolventen Hans Tietze, Oskar Pollak und Felix Horb wurden auch im Vortrag von Friedrich Polleroß behandelt, der die im Wiener Institutsarchiv befindlichen Quellen zu den aus Böhmen und Mähren stammenden KunsthistorkerInnen in Prag vorgestellt hat. Sein Beitrag erschien vor kurzem im Heft 6/2019 der Prager Zeitschrift „Umĕní/ Art“.
Der ebenfalls aus Mähren stammende Wolfgang Kallab war jedoch vor seinem Studium in Wien Schüler von Prof. Strzygowski in Graz, wie ein jüngst aufgefun- dener Aktenvermerk zeigt (Foto). Prof. Swoboda war es hingegen zu verdanken, dass die Kontakte mit den Prager Kollegen nach 1945 nicht abgerissen sind.
Im Sommer 2020 wurde schließlich die überarbeitete Dissertation veröffentlicht, die der Schweizer Simon Morgenthaler 2018 an der Universität Basel bei Rosemarie Zeller und dem aus Wien stammenden Professor Ralph Ubl eingereicht hat. Das Buch trägt den Titel "Formationen einer Kunstwissenschaft. Text- und Archivstudien zu Hans Sedlmayr". Sedlmayr war als Ordinarius des Wiener Institutes von 1936 bis 1945 einer der Hauptvertreter der sogenannten jüngeren oder zweiten "Wiener Schule der Kunstgeschichte", aber auch politisch und wissenschaftsethisch belastet. Seine Publikationen werden von Morgenthaler in dieser Arbeit nicht aus kunsthistorischer, sondern philologischer Perspektive analysiert: "Untersuchungen zu den Praktiken wissenschaftlicher Textproduktion im 20. Jahrhundert sind bisher Desiderat. Am Beispiel des umstrittenen Kunsthistorikers Hans Sedlmayr werden in der vorliegenden Studie textorientierte Zugänge zu diesem Forschungsfeld erprobt. Anhand unveröffentlichter Materialien aus dem Nachlass wird dargestellt, wie Sedlmayr seine Kunstwissenschaft textproduktiv aus Lektüren entwickelt, wie er exzerpiert, zitiert und wie er außerfachliche Denkmodelle textuell adaptiert. Neben der Analyse dieser Textpraktiken und einer fundierten Quellenkritik ermöglichen es die Archivstudien, Sedlmayrs Projekt einer Neulancierung der Kunstwissenschaft zu diskutieren und ausgewählte Publikationen einer fokussierten Re-Lektüre zu unterziehen. Dabei wird exemplarisch gezeigt, welche textuellen Strategien sowie para- und intertextuellen Arrangements im Prozess der Neuformulierung einer Disziplin zum Tragen kommen und wie sich diese unter den unterschiedlichen wissenschaftlich-politischen Konstellationen bis in die 1950er Jahre verändern. Diese Arbeit liefert neue Forschungsgrundlagen zu Hans Sedlmayr und zeigt zugleich Wege auf, wie sich eine Praxeologie der Geisteswissenschaften über einen textorientierten Zugriff entwickeln lässt."
Friedrich Polleroß Fotos: Institut für Kunstgeschichte