Der „material turn“ in der Kunstgeschichte: Seminar zu „Nicolaus von Verdun“ mit Emailworkshop

Wie hängen Material und Technik auf der einen Seite mit Inhalt und Form auf der anderen Seite zusammen? Sind Ikonographie und Stil durch die technischen Dimensionen limitiert oder ist die Art der Ausführung dem Inhalt und der Form unterworfen? Diese seit dem 19. Jahrhundert von „Materialisten“ und „Idealisten“ in der Kunstwissenschaft kontroversiell beantworteten Fragen sind neuerdings wieder in den methodischen Fokus gerückt. Nicht zuletzt durch die Restitutionsforschung und die Sammlungsgeschichte wuchs das Interesse am Kunstwerk als konkretem Objekt. Und im Zuge des „material turn“ in den Kultur- und Geisteswissenschaften werden in Deutschland seit 2012 unter dem Titel „Die Sprache der Objekte“ ausdrücklich Sonderforschungsbereiche gefördert, welche die durch die seinerzeitige Kontroverse sich von einander abwendenden Forschungsrichtungen in den Museen und an den Universitäten wieder verbinden sollen, wobei auch neue technische Möglichkeiten zum Einsatz kommen. So werden etwa an der Universität Wien Stradivari-Geigen mit Mikrocomputertomographen vermessen und virtuell rekonstruiert, um materielle Ursachen ihres Wohlklanges nachweisen zu können.
Diese Strömungen sind bereits mit einigen Projekten auch an unserem Institut präsent: Univ.-Ass. Dr. Marthe Kretzschmar hat im Vorjahr ein Habiliationsprojekt unter dem Titel "Künstlerwissen als Materialwissen. Frühneuzeitliche Bildkünste im Spannungsfeld von Materialästhetik und Werkstoffkunde" begonnen, und die Handschrift als Objekt bzw. „Das Buch als Medium“ sind die Schwerpunkte einer im Herbst dieses Jahres am Institut stattfindenden Tagung für Nachwuchsforscher.
Parallel zum „Verlust“ des Objektes aus der Kunstgeschichte ging aber der Kunstwissenschaft auch die Kenntnis der künstlerischen Techniken verloren und damit die Fähigkeit, Werke wie jene des lothringischen Goldschmieds Nicolaus von Verdun von der handwerklichen Seite nachzuvollziehen. Prof. Dr. Martina Pippal, selbst als Künstlerin tätig, ist aber davon überzeugt, dass Inhalt, Form, Material und Technik nicht voneinander trennbar sind. Die ehemalige Kanzelverkleidung, die der Lothringer zwischen ca. 1170 und 1181 für die Stiftskirche des Augustiner Chorherrenstiftes Klosterneuburg ausführte, ist ihrer Meinung nach dafür ein besonders anschauliches Beispiel. Denn der Goldschmied war nur deshalb imstande in puncto Programm, Ikonographie und Stil einen riesigen Entwicklungsschritt vorwärts zu gehen, weil er die rheinländische Champlevé-Technik mit der maasländischen verband und beide Macharten so vervollkommnete, dass sie sich seinem inhaltlichen und formalen Konzept vollkommen anpassten.
Weil diese Zusammenhänge nur für jemand verständlich werden, der mit der technischen Seite vertraut ist, integrierte Martina Pippal in das von ihr im Wintersemester 2016/17 geleitete Seminar einen Workshop, in dem die Studierenden am Wochenende 14.-15. Jänner 2017 die Grubenschmelztechnik in ihren Grundzügen erlernen konnten. Das von Frau Prof. Pippal seit mehren Jahren praktizierte “kinesthetic learning“ beruht auf der Überzeugung, dass das Verstehen von Kunstwerken und -entwicklungen durch das eigene Handanlegen intensiv gefördert wird im Sinne von Richard Feynmans Leitspruch ”What I cannot create, I do not understand”. Durch das Entgegenkommen und der bekannten pädagogischen Fähigkeit von Frau emer. Prof. Mag. Hannelore Karl konnten daher alle SeminarteilnehmerInnen am Ende des Workshops ein eigenes Werkstück in Grubenschmelztechnik in Händen halten. Die Werkstatt des Instituts für Konservierung und Restaurierung der Universität für angewandte Kunst war dafür von Prof. Mag. Dr. Gabriela Krist zur Verfügung gestellt worden. Die TeilnehmerInnen waren mit Begeisterung bei der Sache und erlernten unter der fachkundigen Anleitung von Frau Prof. Karl die Gruben für die Emaille mit dem Grabstichel aus der Kupferplatte auszuheben, das fein gemahlene Glas einzufüllen, die Werkstücke im Schmelzofen zu brennen und die Oberfläche der abgekühlten Stücke mit immer feineren Werkzeugen zu schleifen. Schließlich wurden die Werkstücke vergoldet und einige Exemplare auch noch auf Hochglanz poliert. 
Aufbauend auf diesem Workshop und einer vorangegangenen Untersuchung des Originals in Klosterneuburg, die schon im Dezember durchgeführt worden war, fand dann das Seminar am 21. und 22. Jänner als Block statt. Die einander schon vom Workshop bekannten Studierenden hatten durch das Praktikum eine noch größere Hochachtung für die Arbeit des Goldschmiedes bekommen. Allerdings schien es bei manchen Referaten, dass die Referentinnen nun zwar die Herstellung von Champlevé-Email grundsätzlich erlernt hatten, aber dafür bei der Methodik der Stilanalyse noch Nachholbedarf hatten...
Im Sommersemester 2017 wird es ein ähnliches Praktikum geben: Univ.-Prof. Dr. Markus Ritter (Islamische Kunstgeschichte) bietet gemeinsam mit dem iranischen Keramikwissenschaftler Dr. Abbas Akbari von der University of Kashan/Iran eine Übung an, in der nach mittelalterlichen Rezepten persische Lüsterkeramik hergestellt und in einem nachgebauten Ofen gebrannt wird. Auch dabei sollen unter dem Motto "Learning by Doing" Kenntnisse durch eine historisch-theoretische Einführung und die praktische kunsthandwerkliche Tätigkeit vemittelt werden.
Friedrich Polleroß   Fotos: Institut für Kunstgeschichte, Martina Pippal, René Steyer