Wirklichkeitsmodellierung 1002 und 2010. Faksimile-Kommentar von Martina Pippal
Wirklichkeitsmodellierung 1002 und 2010. Faksimile-Kommentar von Martina Pippal
Prof. Dr. Martina Pippal hat ihr Sabbatical u.a. für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Sakramentar Kaiser Heinrichs II. in der Bayerischen Staatsbibliothek in München genützt. Gemeinsam mit der Buchspezialistin Brigitte Gullath, dem Mittelalterhistoriker Stefan Weinfurter und dem Liturgiewissenschaftler Erich Renhart verfasste sie den Kommentar zu dem vom Faksimile-Verlag Luzern (seit 2006 Teil des Bertelsmann Medienkonzerns) angefertigten Faksimile des Codex Clm 4456 der Bayerischen Staatsbibliothek.
Nach der Erstpräsentation in München wurden Faksimile und Kommentarband am 27.Oktober 2010 auch an unserem Institut vorgestellt. Auf die launige Einleitung und Begrüßung durch Dekan Univ.-Prof. Dr. Michael Viktor Schwarz folgte der Bericht von Verlagsleiter Dr. Manfred Kramer über die technische Seite des Unternehmens. Die erste Idee zu diesem Projekt entstand bereits vor 25 Jahren, doch hat der technische Fortschritt die lange Planungsphase wettgemacht. Einerseits konnten die 343 Gold- und Silberminiaturen aufgrund der Digitaltechnik besonders originalgetreu reproduziert werden, andererseits wäre die Gestaltung des Elfenbeinreliefs am Buchdeckel vor Erfindung des 3D-Scanverfahrens nicht in solcher Qualität realisierbar gewesen. Durch eine Weiterentwicklung des dafür verwendeten Kunstharzes kann auch das Nachgilben weitgehend ausgeschaltet werden.
Wirklichkeitsmodellierung war aber nicht nur das Zauberwort der Faksimile-Produktion, sondern auch das Thema des Vortrages von Prof. Pippal über die Gestaltung und Intention der Handschrift des Königs und späteren Kaisers Heinrich II. aus dem bayerischen Herzogshaus. Nach Meinung von Martina Pippal war der Codex ein nachträgliches Pendant zum Codex Aureus von St. Emmeram und übernahm von diesem zahlreiche ikonographische und formale Anregungen. Sowohl der Bezug auf die karolingische Handschrift als auch Auswahl der stilistischen Vorbilder seien jedoch nicht willkürlich gewesen, sondern hätten dazu gedient, den Weg zur Kaiserkrone vorzubereiten und gegen vielfältigen politischen Widerstand durch den dezidierten Verweis auf das Gottesgnadentum abzusichern: “Die malerische Ausstattung des Sakramentars definiert Heinrich als Akteur im göttlichen Heilsplan, der – dank der tatkräftigen Unterstützung durch die Kirche – die Verwirklichung eben dieses Planes garantiert; den Miniaturen und Zierrahmen zufolge war es Heinrich, der Chaos durch Ordnung ersetzt hat. Die Hauptaufgabe der beiden Herrscherminiaturen war es sichtlich, den jungen, gerade erst gekrönten König als den zukünftigen Kaiser zu enthüllen. Dies geschieht, indem die beiden auf Recto- und Versoseite desselben Blattes befindlichen Darstellungen in ikonographischer Hinsicht auf zwei ihrerseits sehr aussagekräftigen Kaiserdarstellungen fußen.“ Man könne also von einer „Wirklichkeitsmodellierung“ des Herrschers mithilfe der Buchmalerei des Prunkcodex sprechen, auch wenn diese Entwicklung durch Heinrichs Ausbildung zum geistlichen Stand vorbereitet und durch seine spätere Heiligsprechung gleichsam nachträglich legitimiert wurde.
Im Einsatz der modernen visuellen Medien zur Wirklichkeitsmodellierung hat die Referentin in ihrem Vortrag den mittelalterlichen Herrscher jedoch wohl noch übertroffen: Anstelle einer biederen „Doppelprojektion“ (wie für den Altar der kaiserlichen Hofkapelle postuliert) wurden die Genealogie und die politischen Strukturen um den Kaiser in allen Farben herbei- und wieder weggezaubert; gelbe Pfeile von links und blaue von rechts zischten einem wie dem Hl. Sebastian vor die Augen; Akanthusblätter begannen zu swingen, und auf dem Altartisch wurden Bücher wie vom unsichtbaren Hauch des Heiligen Geistes bewegt auf- und zugeklappt. Wer dieser Wirklichkeitsmodellierung der Vortragenden noch immer nicht glauben wollte, wurde mit dem „Krankenschwesternplural“ (O-Ton Pippal) in die didaktische Zange genommen. Zum Glück gab es anschließend für jeden Zuhörer ein Gläschen Sekt, sodass die vielleicht von der rhetorischen Bilderflut überwältigten Zungen wieder gelockert werden konnten.
P.S. Das Faksimile des Sakramentars Heinrichs II. kann übrigens zum „Liebhaberpreis“ von Euro 26.000,- (inklusive Kommentarband) auch von jedermann/ jederfrau erworben werden. Ratenzahlung ist möglich!
Friedrich Polleroß Fotos: Immanuel Bomze, Friedrich Polleroß, UNIDAM