Vienna School Revival: Riegl & Antal

Hundert Jahre nach ihrer ersten Blüte erlangt die „Wiener Schule der Kunstgeschichte“ erneut internationale Anerkennung. So war Heft Nr. 72 der französischen Zeitschrift „Austriaca“  im Jahre 2011 der Wiener Kunstgeschichte gewidmet und enthielt u.a. Aufsätze von Georg Vasold, Karl Johns, Diane Reynolds, Jacques Le Rider und  Matthew Rampley. Der letztgenannte Professor in Birmingham hat 2013 unter dem Titel „The Vienna School of Art History. Empire and the Politics of Scholarship, 1847-1918“ die Entstehung dieser wissenschaftlichen Schule und ihre politischen Hintergründe erforscht.

Der wohl bedeutendste damalige Vertreter des Faches, Alois Riegl (1858-1905), wurde zuletzt in Wien anlässlich seines 100. Todestages mit einer internationalen Tagung und einer daraus resultierenden Publikation gewürdigt. Eine der Teilnehmerinnen dieser Veranstaltung, Diane Reynolds, hat heuer ihre langjährigen Forschungen zu Riegl in Form einer „institutionellen Biographie“ vorgelegt. Das letzte große Werk des Wiener Ordinarius, „Das holländische Gruppenporträt“, ging aus den Vorlesungen über niederländische Malerei in den Jahren 1895/96 und 1900/01 hervor und erschien 1902 im 23. Band des Jahrbuches der Kaiserlichen Sammlungen in Wien. Unter der Leitung von Karl Maria Swoboda wurde 1931 eine von Ludwig Münz bearbeitete selbstständige Publikation dieser Studie veröffentlicht. Das Wiener Institut verwahrt in seiner Nachlasssammlung nicht nur Manuskripte der entsprechenden akademischen Vorlesungen von Prof. Riegl, sondern auch Notizbücher mit Bemerkungen zu holländischen Gemälden in Wien sowie in Kassel, Den Haag oder Amsterdam.

Ein weiteres Buch über die gesamte niederländische Malerei wurde in den 1930er Jahren vorbereitet, konnte aber aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Umstände nicht veröffentlicht werden. Zur Zeit wird wieder an eine Herausgabe dieses Werkes gedacht und zwar an eine deutsche Ausgabe unter der Leitung unseres Emeritus Artur Rosenauer und an eine englische Ausgabe unter der Leitung des rumänischen Kunsthistorikers Vlad Ionescu von der Universität in Löwen, der sich schon länger mit Riegl beschäftigt. Vom Buch über die Gruppenporträts ist 1999 eine englische Ausgabe erschienen und 2008 brachte Etienne Jollet, Professor an der Sorbonne, eine französische Übersetzung heraus. Er war daher einer der Teilnehmer der im Dezember 2014 in Paris vom Deutschen Forum für Kunstgeschichte sowie dem Institut National d’Histoire de l’Art veranstalteten Tagung  „Lire Riegl Aujourd’hui“ (Riegl heute lesen). Als deutschsprachige Fachleute zu Riegl nahmen u.a. Prof. Rosenauer und der Frankfurter Ordinarius Hans Aurenhammer an dieser Veranstaltung teil.

Einer jüngeren Generation der Wiener Absolventen gehörte der ungarische Kunsthistoriker Frederick (Frigyes) Antal (1888-1954) an. Er studierte zuerst in Berlin bei Wölfflin, schloss aber sein Studium 1914 in Wien mit einer Dissertation bei Max Dvořák und Josef Strzygowski ab. Diese Arbeit wurde nie veröffentlicht, sondern erst jetzt genau 100 Jahre später aus dem Nachlass vom griechischen Kunsthistoriker Nicos Hadjinicolaou und dessen Sohn Yannis im Schweizer Verlag Diaphanes herausgegeben. Unter dem Titel „Klassizismus, Romantik, Realismus“ behandelt die akademische Abschlussarbeit die französische Malerei von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis Géricault. Für die Zeit nach 1900, als die akademische Wiener Kunstgeschichte eben erst die Barockzeit entdeckt hatte, handelte es sich also um relativ moderne Epochen. Das neue Buch enthält eine Einleitung von Pablo Schneider sowie ein Nachwort der beiden Herausgeber und Nachlassverwalter, die auch neue Einblicke in das Leben Antals gewähren, darunter die nicht unproblematischen Beziehungen zu Aby Warburg und anderen Kollegen.

Besonders bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, dass der später als marxistischer Kunsthistoriker berühmt-berüchtigt gewordene Antal hier erstmals seine Deutung kunsthistorischer Phänomene als Folge sozialer Entwicklungen erprobte. Konsequenterweise war Antal ab 1916 Mitglied des berühmten Budapester Sonntagskreises, dem u.a. die Kunsthistoriker Johannes Wilde, Charles de Tolnay und Arnold Hauser, der Soziologe Karl Mannheim und der Philosoph Georg Lukács angehörten. Dieser politisch links verorteten Gruppe von ungarischen Kunsthistorikern hat der Wiener Dozent Károly Kókai im oben genannten französischen Sammelband einen eigenen Aufsatz gewidmet.

Nach dem Krieg in der ungarischen Räterepublik engagiert, floh Frederick Antal nach deren Niederschlagung nach Wien. Von 1923-33 lebte er in Berlin und gab mit dem aus Österreich stammenden Bruno Fürst die „Kritischen Berichte zur kunstgeschichtlichen Literatur“ heraus, während seine Habilitation in Hamburg aufgrund einer Intervention von Aby Warburg scheiterte. Dann emigrierte der aus einer jüdischen Familie stammende Antal nach England, wo er sein Hauptwerk über die Florentiner Malerei schuf. Da die Veröffentlichung dieses Buches in die Zeit des Höhepunktes des "Kalten Krieges" fiel, wurde es jedoch von der angloamerikanischen bzw. westeuropäischen Kunstgeschichte als marxistisch abgestempelt und abgelehnt.

 

 



Friedrich Polleroß   Fotos: Institut für Kunstgeschichte