Das mittelalterliche Buch als Medium. Interdisziplinäre Graduiertentagung

Am 1. und 2. September 2017 fand am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien eine interdisziplinäre Graduiertentagung zum Thema mittelalterliche Handschriften und ihre Funktionen statt. Die Tagung wurde auf Initiative der Doktorandinnen Kristina Kogler (Kunstgeschichte), Christina Weiler (Kunstgeschichte) und Sophie Zimmermann (Germanistik) konzipiert und veranstaltet. Dem Call-for-Papers, der sich ausdrücklich an NachwuchswissenschaftlerInnen unterschiedlicher Fachrichtungen richtete, die einem interdisziplinären Publikum einen Einblick in ihre Forschungsarbeit über Funktionen von Handschriften des 12. bis 15. Jahrhunderts geben wollen, folgten zahlreiche Bewerberinnen und Bewerber. Neben der Möglichkeit des wissenschaftlichen Austausches über die eigenen Fachgrenzen hinweg stand vor allem die internationale Vernetzung von jungen AkademikerInnen im Mittelpunkt.
Als Keynote Speaker eröffnete Frau Prof. Kathryn Rudy (St. Andrews) mit ihrem Vortrag „Eating the Face of Christ in late Medieval Manuscripts“ die zweitägige Veranstaltung. In ihren äußerst interessanten und ebenso mitreißend vorgetragenen Überlegungen lieferte sie einen Einblick in den Gebrauch von Büchern, der vom Berühren und Küssen von Darstellungen bis zum Abkratzen und Essen des Farbauftrags reichte.
Auch die daran anschließenden Vorträge der DoktorandInnen, die aus den Fachrichtungen Kunstgeschichte, Geschichte, Germanistik und Byzantinistik kamen und von verschiedenen internationalen Universitäten anreisten, machten schnell deutlich, dass ein Buch weit mehr kann, als nur Wissen zu speichern und dass es als Objekt eine wichtige Schnittstelle unterschiedlicher Forschungsbereiche darstellt.
Kristina Kogler (Wien) zeigte in ihren Ausführungen über den „Vidal Mayor“ Verbindungen von Kunstgeschichte und Rechtswissenschaften auf. Anhand von Text-Bild-Bezügen gab sie einen Einblick in mögliche Funktionen der reich ausgestatteten, aragonesischen Rechtshandschrift und ging auch der Frage nach der Person des (unbekannten) Auftraggebers des Manuskripts nach.
Im darauffolgenden Vortrag von Eszter Nagy (Budapest) stand die Funktion mythologischer Darstellungen in Stundenbüchern aus Rouen im Mittelpunkt. Dabei ging sie insbesondere auf Illustrationen des Urteils des Paris und des betenden Königs David ein, die in diesen Handschriften als Warnungen vor Eitelkeit und der Zurschaustellung des weiblichen Körpers zu deuten sind.
Philippa Sissis (Hamburg) widmete sich frühen Florentiner Humanisten wie Coluccio Salutati, Poggio Bracciolini sowie Niccoló Niccoli und beleuchtete die Frage der Funktionen von zwei Seiten: der Möglichkeit der Reflektion von Leser und Schreiber in einer Person sowie der Inszenierung der eigenen Identität durch das ästhetische Konzept eines Schriftbildes.
Den zweiten Tag des DoktorandInnensymposiums eröffnete die Germanistin Sophie Zimmermann (Wien) mit einem Vortrag über Funktionen von Büchern in mittelhochdeutschen Texten. Anhand der Werke „Brandans Meerfahrt“ und „Reinfried von Braunschweig“ arbeitete sie Funktionen von Büchern heraus, die aufgrund ihrer Präsenz als Symbol und Zeichen fungieren und durch ihre alleinige An- oder Abwesenheit wirksam werden können.
Anschließend begab sich Timo Bülters (Rostock) auf Spurensuche in das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Wienhausen, aus dem eine Handschrift mit medizinisch-pharmazeutischem Inhalt, das „Promptuarium Medicine“ aus dem 15. Jahrhundert, erhalten ist. Neben der Provenienz standen vor allem die Fragen nach der Person des Auftraggebers oder der Auftraggeberin, den Kopistinnen und der Funktion des Manuskripts im Frauenkloster im Zentrum seiner Überlegungen.
Giulia Rossetto (Wien) beleuchtete die Frage nach den performativen, liturgischen und repräsentativen Funktionen von Gebetsbüchern (euchologia) aus byzantinischer Sicht. Dabei zeigte sie Beispiele aus dem Katharinenkloster am Sinai, der Biblioteca Vaticana sowie aus Patmos und Grottaferrata.
Der Germanist Alexander Hödlmoser (Wien) gab Einblicke in seine Arbeit an der Edition der Österreichischen Chronik der Jahre 1454 bis 1467. Er befasste sich mit den Funktionen der zahlreichen Nutzungsspuren in Form von Korrekturen, Kommentaren und textuellen Verweisen, die von der frühen und andauernden Arbeit am Text zeugen.
In Irina von Morzés (Wien) Vortrag stand eine vatikanische Prachthandschrift des 15. Jahrhunderts im Mittelpunkt (Rom, BAV, Vat. Lat. 5697), die Petrus Comestors „Historia Scholastica“ beinhaltet. Dabei ging die Kunsthistorikerin vor allem den Fragen nach dem möglichen Auftraggeber und der Verwendung des Manuskripts nach.
Der „Welsche Gast“ von Thomasin von Zerclaere war der zentrale Untersuchungsgegenstand der Ausführungen von Lisa Horstmann (Heidelberg), von dem insgesamt 25 Textzeugen aus dem 13. bis zum 15. Jahrhundert überliefert sind – 19 davon sind mit Bildzyklen ausgestattet. In ihrem Vortrag diskutierte sie anhand von einzelnen Motiven die Veränderung des Bildes in Hinblick auf eine Verschiebung der Textinterpretation.
Maximilian Wick (München) widmete sich der Leidener „Wigalois“-Handschrift. Ausgehend von zwei ganzseitigen Miniaturen, für die es im Text keine Entsprechung zu geben scheint, untersuchte er das Verhältnis des Illustrationsgefüges zum Artusroman. Er schlussfolgerte, dass hier der darauffolgende Prolog kommentiert wird und stellte die Frage, ob es sich bei dem Manuskript um den Ausdruck einer subversiven Theologie handle.
Dennis Wegeners (Wien) Überlegungen betrafen das handschriftlich nachgetragene 117. Kapitel des „Theuerdank“-Drucks Rar. 325a der Bayerischen Staatsbibliothek München, das in allen anderen Drucken fehlt. Er kam zum Ergebnis, dass es sich bei diesem Druck sehr wahrscheinlich um ein Korrekturexemplar handelt – darauf weisen mehrere eingeklebte handschriftliche Zettel hin –, nach dem die übrigen Drucke des Jahres 1517 überarbeitet wurden.
Ein weiterer kunsthistorischer Beitrag stammte von Justyna Łuczyńska (Krakau). In ihren Ausführungen zum Franziskaner Brevier Ms. Czart. 1211 aus dem Nationalmuseum von Krakau machte sie deutlich, dass das Manuskript im Umfeld von Neapel von Cola und Nardo Rapicano ausgestattet wurde.
Den Abschlussvortrag der Tagung hielt Christina Weiler (Wien). Am Beispiel der Darstellung des Heiligen Josef in den vier illustrierten Trecento-Handschriften der „Meditationes Vitae Christi“ verdeutlichte sie, wie Illustrationen bestimmte Ebenen des Textes vermitteln. Das Zusammenspiel von Text und Bild deutet daraufhin, dass diese Handschriften die Vermittlung franziskanischer Ideale besonders hervorheben wollten.
Ein besonderes Ereignis des Symposiums war der gemeinsame Ausflug in das Augustiner-Chorherrenstift Klosterneuburg am Nachmittag des ersten Tages. Die derzeitige Bibliothekarin Edith Kapeller führte uns durch die Klosteranlage. Neben der Besichtigung der umfangreichen Stiftsbibliothek, bei der die TeilnehmerInnen ausgewählte Manuskripte, darunter auch eine Handschrift des „Decretum Gratiani“, aus nächster Nähe begutachten konnten, durften natürlich auch der Verduner Altar und der Babenbergerstammbaum nicht fehlen.
Finanziert und unterstützt wurde die Graduiertentagung durch das Wiener Institut für Kunstgeschichte, die historisch-kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien, die Kunsthistorische Gesellschaft, die VDA „Medieval Academy“ sowie die ÖH Uni Wien und die Studienvertretung Dok*Phil.

Kristina Kogler, Christina Weiler, Sophie Zimmermann   Fotos: Lena Sommer, Andrea Riedl, Kristina Kogler