Friedrich Kieslers „Raumbühne“ und das Institutsarchiv


Es ist eine alte Weisheit, dass man in Museumsdepots und Archiven immer wieder Entdeckungen machen kann. Besonders erfreulich ist dies, wenn es auch zum (fast) passenden Zeitpunkt erfolgt – wenn man nämlich kurz nach der Eröffnung  einer Ausstellung bisher unbekanntes Material dazu findet. Am 14. Juni 2016 wurde im Museum für Angewandte Kunst/MAK die Sonderausstellung „Friedrich Kiesler. Lebenswelten“, die noch bis Anfang Oktober zu sehen sein wird, feierlich eröffnet. Die umfangreiche Schau umfasst alle Arbeitsbereiche Kieslers, wobei die Ausstellungsachitektur den Kieslerschen Ideen nachempfunden wurde. Inhaltlich reicht der Bogen von den frühen Wiener Gemeindebauten über amerikanische Wohnräume wie das Endlesshouse bis zum Shrine in Jerusalem. Als Gastkurator dieser Ausstellung fungierte der Initiator der österreichischen Kiesler-Stiftung, Dozent Dr. Dieter Bogner. Er bezeichnete die Sonderschau als bisherigen Höhepunkt seiner 1988 begonnenen Beschäftigung mit diesem österreichisch-amerikanischen Ausnahmekünstler (1890-1965) und betonte dessen Interdisziplinarität, Nachhaltigkeit und Auswirkung auf manche später künstlerische Phänomene. Mag. Peter Bogner, der Direktor der Kiesler-Stiftung, ist zwar nicht mit Dieter Bogner verwandt, aber ebenfalls Absolvent unseres Institutes. Dies gilt auch für zwei der Katalogautor- Innen, nämlich den Sammlungskurator der Kiesler-Stiftung, Mag. Gerd Zillner, sowie für Dr. Barbara Lesák, die ehemaligen Kuratorin des Theatermuseums und einer dortigen Kiesler-Ausstellung, die sich mit der berühmten „Raumbühne“ beschäftigt.
Zu diesem spektakulären Schwerpunkt Kieslers finden sich auch einige Nachrichten im Institutsarchiv und zwar im Nachlass des aufgrund seiner Emigration weitgehend unbekannten Kunsthistorikers Dr. Kurt Rathe. Dieser wurde 1886 in Wien geboren und schloss sein Kunstgeschichtestudium 1908 mit einer Dissertation über die Florentiner Domfassadenplastik bei Professor Julius von Schlosser ab. Die Arbeit wurde 1910 gedruckt. Rathe war an der graphischen Sammlung der Hofbibliothek bzw. später an der Albertina beschäftigt, verlor aber 1922 seinen Posten wegen "einer antisemitischen Affäre" (McEwan). Er arbeitete daraufhin längere Zeit als „Privatier“ und musste Mitte der 1930er Jahren nach England emigrieren. Ab 1937 publizierte er im „Burlington Magazine“, in den „Studies of the Warburg Institute“ und in der von 1936-40 erscheinenden italienischen Zeitschrift „Maso Finiguerra“. Er verstarb 1952 in London, und es ist unbekannt, wie sein Nachlass ans Institut kam. Parallel zu seiner Beschäftitung mit mittelalterlicher Kunst interessierte sich Kurt Rathe auch für das zeitgenössische Kunstschaffen. Schon 1911 publizierte er über die Internationale Kunstausstellung in Rom und 1912 über die Neuwerbungen der Österreichischen (Modernen) Staatsgalerie sowie 1923 über Egon Schiele. In den 1920er Jahren wirkte Rathe neben der Kunsthändlerin Lea Bondi-Jaray und dem Museumsbeamten Dr. Hans Tietze als Schriftführer in der „Gesellschaft der Freunde der modernen Kunst“ mit, die u.a. Ausstellungen über zeitgnössische französische und russische Malerei organisierte. Dieser Verein organisierte jedoch auch die im September 1924 im Konzerthaus abgehaltene „Internationale Ausstellung für neue Theatertechnik“, bei der neben Kiesler und Tietze auch der Karikaturist Benedikt Fred Dolbin als Kurator mitwirkte. Als ausländische Gäste waren u.a. der futuristische Bühnenbildner Enrico Prampolini und der kubistische Maler sowie Filmregisseur Fernand Léger persönlich und mit ihren Arbeiten vertreten. Besondere Aufmerksamkeit erzielte Kieslers Konzept einer „Raumbühne“ im Gegensatz zur traditionellen Guckkastenbühne. Dies rief jedoch gleich den Protest des Psychodramatikers Dr. Moreno Levy hervor, der behauptete, Kiesler hätte ihm die Idee gestohlen. Der Bericht der Zeitung „Der Tag“ über die Eröffnung der Ausstellung durch den Wiener Bürgermeister schließt mit dem Absatz: „Ein Zwischenfall. Bei der gestrigen Eröffnung der Internationalen Theater- und Musikausstellung ergab sich ein peinlicher Zwischenfall. In dem Augenblick, als der Präsident Vetter dem Bürgermeister den Leiter der Ausstellung, Maler Kiesler, vorstellte, rief eine dröhnende Stimmer durch den Raum: ‚Ich erkläre in aller Öffentlichkeit, daß der Maler Kiesler ein Plagiator und ein Lump ist!‘ Diese Szene rief einige Beunruhigung hervor, die sich erst legte, als der Urheber des Ausrufes, der Vöslauer Arzt und Leiter der Wiener Stehgreifbühne Dr. Moreno Levy, von den Saaldienern hinausbefördert wurde.“
Trotz dieser Kritik wurden Kieslers Theatervisionen als so interessant erachtet, dass er in Paris von der amerikanischen Publizistin Jane Heap zur „International Theatre Exposition“ 1926 in New York eingeladen wurde. Der Theaterarchitekt, seit 1920 mit der gleichfalls vom niederländischen „De Stijl“ inspirierten Künstlerin Stefanie Frischer (1897-1963) verheiratet, übersiedelte gemeinsam mit seiner Ehefrau Anfang des Jahres in die USA. Das kurze Schreiben vom 3. März auf dem offiziellen Briefpapier der Ausstellung wurde von Friedrich Kiesler unterzeichnet und vermeldet, dass die Eröffnung am 27. Februar erfolgreich verlaufen war: „Das Begräbnis des alten Theaters findet unter enormer Beteiligung des Publikums und der Presse statt.“ Die Ankündigung eines ausführlicheren Berichtes wird mit den Grüßen an Dolbin sowie den expressionistischen Dramatiker Franz Theodor Czokor und einen Herrn Hauser, vermutlich den ungarischen Schriftsteller und Kunstsoziologen Arnold Hauser (1892-1978), verbunden. Kieslers Vorstellungen vom Theater waren jedoch manchen zu progressiv, und vor allem waren die kapitalistischen Arbeitsverhältnisse für die beiden Europäer ungewohnt und es mangelte an finanzieller Unterstützung. Diese Fakten waren bisher nur aus zwei Briefen an das Ehepaar van Doesburg bekannt. Die Korrespondenz im Institutsarchiv bestätigt und ergänzt diesen Befund. Der ausführlichere Bericht vom 11. Juli wurde von Stefi Kiesler mit zwei Zeitungsbildern illustriert sowie unterzeichnet und verrät die inzwischen deutlich gewordenen Skepsis über die USA und ihre Bewohner: „Die Ausstellung hat ungeheure Sensation hervor gerufen. Sie war unendlich gross und ganz nach dem Wiener System aufgestellt (Konstruktion etwas verändert). Kiesler hat gigantische Pläne, die er in Paris vollendet hat, zum ersten Mal ausgestellt und das Interesse für sie und die Ausstelelung hat tägliche Spalten aller Zeitungten gefüllt. Nach der Ausstellung unendliche Arbeit mit dem Rücktransport, die Kiesler und ich allein bewerkstelligen mussten, da der Amerikaner nur solange Interesse an einer Sache hat, solange sie aktuell ist. Nachher ist alles für ihn gestorben. Ich verstehe darunter das Ausstellungs- comité, das uns überhaupt um einige Erfahrungen reicher gemacht hat. Die Schwierigkeiten, die Kiesler hier an allen Ecken und Enden zu überwinden hatte, lassen sich gar nicht in einem Briefe schildern und er arbeitet jetzt einen Bericht aus für alle Aussteller und da werden Sie es lesen. Amerika ist außerordentlich interessant. Alle europäischen Vorstellungen bezüglich Geldverdienen sind Märchen und in keinem Land auf der ganzen Erde, verdient man so schwer und hart sein Lebensauskommen. Das Grundprinzip des Amerikaner ist: Hilf Dir selbst, dann helf‘ ich Dir. Für Kunst ist natürlich nicht das geringste Interesse. Ein paar Snobs, die so tun. Bautechnsich wunderbar, weit vorgeschritten, Architektur gleich null. Bis wir überflüssiges Geld haben, kaufen wir einen Apparat und werden Ihnen dann sehr interessante Photos schicken. Einen Apparat hat man uns gleich in den ersten Tagen der Ausstellung gestohlen.“ Auch dieser Brief schließt mit der Frage, wie es Dolbin, den Tietzes, und dem Maler Oskar Laske sowie dessen Ehefrau geht, und mit der Bemerkung „Ich habe oft unendliche Sehnsucht nach Wien und Paris.“  Handschriftlich ergänzte Friedrich Kiesler das maschinschriftliche Schreiben mit einigen Zeilen, in denen er Rathe um Neuigkeiten bittet und seine Besorgnis äußert.
Obwohl die finanzielle Situation so schlecht war, dass Stefi Kiesler 1927 eine Stelle an der New York Public Library annehmen musste, um das Künstlerleben ihres Mannes zu finanzieren, blieb das Ehepaar dennoch in den USA und kehrte nicht mehr nach Europa zurück.
Friedrich Polleroß   Fotos: Institut für Kunstgeschichte, Friedrich Polleroß