Wiener Kunstgeschichte & italienische Buchmalerei

Den italienischen Dichtern Ariost, Dante Alighieri, Torquato Tasso, Petrarca und Boccaccio, die auch einen großen Einfluss auf die bildende Kunst hatten, ist eine Vortrags- bzw. eine Publikationsreihe gewidmet, die von unserem Rektor Sebastian Schütze gemeinsam mit der Basler Literaturwissenschaftlerin Maria Antonietta Terzoli organisiert und herausgegeben wird. Als viertes Projekt der Serie wurde am 2. November 2022 im Italienischen Kulturinstitut die Tagung „Boccaccio und die Bildenden Künste“ gestartet, die vom Institutsdirektor Nicola Locatelli und dem italienischen Botschafter Stefano Beltrame eröffnet wurde. Dieser verwies auf die Multimedialität und die Tatsache, dass die hundert Erzählungen des „Decamerone“ ja aus einem Lockdown während der Pest in Florenz bzw. zu dessen Zeitvertreib entstanden sind.

Sebastian Schütze betonte die Interdisziplinarität der Tagung unter Basis der jeweiligen „Kernkompetenz“ (was nicht überall der Fall sei) sowie die Vielsprachigkeit des Unternehmens. Die Bände würden auch jeweils zur nächsten Tagung vorliegen und vom Verlag auch bereits erwartet werden. Maria Antonietta Terzoli verwies auf die Tatsache, dass Boccaccio nicht nur selbst gezeichnet hat, sondern seine Texte bald auch in zahlreichen Handschriften illustriert wurden. Den Eröffnungsvortrag hielt der Doyen der italienischen Literaturwissenschaft Amadeo Quondam aus Rom. Er betonte die Verdienste des Dichters als Begründer der Gattung „Novelle“, also der kurzen Erzählung, und damit eine Grundlegung der europäischen Kultur bis hin zur heutigen Fernsehserie, der „Telenovela“.

In einem der Vorträge am 4. November am Institut referierte Michael Viktor Schwarz über die Novelle VI/5, welche die Geschichte eines zufälligen Treffens von Giotto mit einem Adeligen zum Thema hat und von der Schlagfertigkeit des Künstlers berichtet. Die beiden Akteure haben sich vermutlich auch gekannt, da sie in einem Vertrag gemeinsam genannt werden. Die Thematik des nicht auf den Mund gefallen Künstlers nahm offensichtlich hier ihr Ausgangspunkt. In der Diskussion wurde gefragt, wie weit hier die Fähigkeit Giottos als Historienmaler gepriesen werden sollte. Es scheint aber auch denkbar, dass es darum gegangen sein könnte, die Malerei von einem Handwerk zu einer intellektuellen Fertigkeit aufzuwerten. Die Giotto-Erzählungen wurden übrigens nicht nur von Pier Paolo Pasolini verfilmt, sondern vor einiger Zeit auch im Boccaccio-Seminar von Martina Pippal (Abbildung).

Eine der Teinlehmerinnen der Boccaccio-Tagung, Teresa d’Urso, nutze ihren Aufenthalt auch zu einem Studium der Archivalien unseres Institutes. Denn die Beschäftigung der Wiener Schule der Kunstgeschichte mit der italienischen Buchmalerei reicht weit zurück. Franz Wickhoff (1853-1909), Ordinarius von 1890 bis zu seinem Tod, wurde mit seinem gemeinsam mit dem Altphilologen und späteren Unterrichtsminister Wilhelm von Hartel 1895 herausgegebenen Band über den spätantiken Codex Graecus 31 der Wiener Hofbibliothek (heute ÖNB) zum Begründer der „Erzählforschung“. Und das von ihm ab 1904 herausgegebene „Beschreibende Verzeichnis der illuminierten Handschriften in Österreich“ begründete die Gattung der Corpuswerke zur Buchmalerei in Österreich.

Diese Bestandskataloge begannen mit umfangreichen Erfassungen der in den Bibliotheken der österreichisch-ungarischen Monarchie vorhandenen Bestände. 1906 war aber auch eine Kooperation mit der Biblioteca Apostolica Vaticana angedacht, wie aus der Korrespondenz im Wickhoff-Nachlass hervorgeht: Autoren sollten der Vaticana-Kustos Pio Franchi de' Cavalieri (1869-1960) und Robert Eisler (1882-1949) (Abbildung).

Ebenso wesentlich für die neue wissenschaftliche Dimension der Erforschung der Buchmalerei wie diese Grundlagenforschung war die fotografische Erfassung der Denkmäler und deren Publikation in hochwertigen Drucken, nachdem zunächst von einzelnen Miniaturen Zeichnungen angefertigt worden waren (Abbildung). Wickhoff und später sein Nachfolger Max Dvořák, der seine Karriere ebenfalls mit der Beschäftigung mit der mittelalterlichen Buchmalerei begonnen hatte, schlossen dafür eigene Verträge mit Wiener Fotografen wie Michael Frankenstein, Martin Gerlach und mit Feindruckereien wie Angerer & Göschl ab (Abbildung). In den dafür angelegten Listen wurde genau festgehalten, welche Miniatur im Format 13 x 18 oder 18 x 24 cm fotografiert werden sollte (Abbildung).

Der wichtigste Mitarbeiter des 1903 gestarteten Forschungsprojektes war zunächst der heute kaum bekannte Hermann Julius Hermann (Porträt im Archiv des KHM), dessen Teilnachlass im Institutsarchiv vor kurzem inventarisiert wurde. Hermann wurde am 12. Oktober 1869 in Wien geboren und hat während seines Studiums an der Universität Wien u.a. Wickhoffs Vorlesung über die frühchristliche und frühmittelalterliche Malerei gehört. Parallel zur Beschäftigung seines Lehrers mit der spätantiken Buchmalerei hat auch Hermann sein Studium 1895 mit der Dissertation „Die Miniaturen zweier Aristoteles-Handschriften in der Wiener Hofbibliothek (Philos. graec. 2 u. Philos graec. 4)“ (Abbildung) abgeschlossen.

Er habilitierte sich 1901 als Privatdozent mit der Arbeit „Zur Geschichte der Miniaturmalerei am Hofe der Este in Ferrara. Stilkritische Studien“ für das Fach Kunstgeschichte an der Universität Wien. Diese Untersuchung wurde erst bzw. noch 1994 auch in italienischer Sprache veröffentlicht (Abbildung)! Hermann wurde 1921 zum außerordentlichen Professor an der Universität Wien ernannt, legte aber nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 seine „Venia legendi“ nieder.

Hauptberuflich übernahm Hermann 1898 eine Assistentenstelle am Kunsthistorischen Museum in Wien (Abbildung) und wurde dort 1923 als Nachfolger von Julius von Schlosser zum Direktor der Sammlung für Plastik und Kunstgewerbe bestellt. Nach dem Ersten Weltkrieg verteidigte Hermann die österreichischen Kunstschätze mit Erfolg gegen Ansprüche der Nachfolgestaaten der Donaumonarchie. Der Sammlung für Plastik und Kunstgewerbe schloss er 1919 den einzigartigen Bestand von 900 Gobelins an und er kämpfte erfolgreich gegen die Versuche diese zu veräußern. Hermann leitete das Kunsthistorische Museum 1924-1925 als Erster Vorsitzender des Kollegiums der wissenschaftlichen Beamten sowie von 1925-1933 als Erster Direktor.

Trotz seiner Tätigkeit am Kunsthistorischen Museum publizierte Hermann vorwiegend zur italienischen Buchmalerei, insbesondere aufgrund der Bearbeitung der Miniatur-Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, u.a. „Miniaturhandschriften aus der Bibliothek des Herzogs Andrea Matteo III Acquaviva“ (Wien 1898), „Die frühmittelalterlichen Handschriften des Abendlandes“ (Leipzig 1923), „Die italienischen Handschriften des Dugento und Trecento. 2, Oberitalienische Handschriften der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts“ (Leipzig 1929), „Die Handschriften und Inkunabeln der italienischen Renaissance. 3: Unteritalien, Neapel, Abruzzen, Apulien und Calabrien“ (Leipzig 1933).

Die Corpusserie der Buchmalerei in österreichischen Bibliotheken wird heute von Kolleg*nnen der Akademie der Wissenschaften und des nach Otto Pächt benannten "Forschungszentrums für mittelalterliche Bild- und Buchkultur" unseres Institutes bearbeitet. Die jüngste Mitarbeiterin dieser Abteilung, Sophie Dieberger, hat gerade ein dreimonatiges Stipendium am „Österreichischen Historischen Institut in Rom“ zum Studium italienischer Handschriften absolviert. Der Buchmalereischwerpunkt der „Wiener Schule der Kunstgeschichte“ kann also auch in Zukunft fachkundig weitergeführt werden!

Friedrich Polleroß    

Fotos: Archiv des KHM, Institut für Kunstgeschichte, Friedrich Polleroß