Experiment Buch um 1500 – Tagung am Institut für Kunstgeschichte

Das VII. internationale Wiener Buchmalereikolloquium vom 27.-28. September 2019 am Institut für Kunstgeschichte wurde vom Forschungszentrum für Buchmalerei „Otto Pächt-Archiv“ der Universität Wien (Caroline Zöhl und Armand Tif) und der Abteilung Schrift- und Buchwesen an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Maria Theisen) organisiert. Es hatte zum Ziel, die Rolle der Künstler in Buchprojekten um 1500 gemeinsam mit ForscherInnen unterschiedlicher Institutionen und Forschungskulturen zu diskutieren. Dank der Einladung des Leiters der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (Andreas Fingernagel) bot das Kolloquium für die ReferentInnen bereits am Vortag die Gelegenheit, verschiedene Aspekte und Fragen vor Originalen (Handschriften und Inkunabeln) in der ÖNB zu diskutieren. Dies förderte eine kollegial lockere Stimmung zwischen den Experten, die während des gesamten Kolloquiums erhalten blieb. In den Pausen zwischen den Sektionen der folgenden zwei Tage hatten alle TeilnehmerInnen die Gelegenheit zum fachlichen Austausch mit ExpertInnen vor Faksimile-Editionen hochrangiger Codices (u.a. Gebetbuch Maximilians I.), die vom Quaternio Verlag begleitend zur Tagung ausgestellt wurden.
Den Auftakt der Konferenz bildete Eric White‘s (Princeton) Präsentation eines bislang unbekannten frühen Zusammenwirkens von Drucker und Buchausstatter zur Herstellung gebrauchsfertiger Bücher in Straßburg. Ein besonders kreativer Rubrikator und Florator dekorierte ab 1460 Drucke der Offizin von Johannes Mentelin und noch in den 1470er Jahren auch Exemplare aus Heinrich Eggesteins Druckerei. White machte damit einen Ornamentstil für die aufgrund großer Bibliotheksverluste wenig erschlossene Straßburger Buchkunst greifbar. Zudem wies er nach, dass dort, ebenso wie zur gleichen Zeit in der Fust-Schöffer-Offizin in Mainz, der Dekor für Partien der Druckauflagen vor Ort ausgeführt wurde. Offen blieb auch in der Diskussion, ob es sich hier um Aufträge der Druckereien handelte, um ein gemeinsames Geschäftsmodell von Drucker und Rubrikator, oder ob die Exemplare von einem unabhängigen Florator zum Weiterverkauf erworben wurden.
In der geplanten Anfangs-Sektion zur Künstlermobilität zwischen den Gattungen, in der der Vortrag von Mara Hofmann (London) zur Beteiligung von Amico Aspertini, Perugino, Lorenzo Costa, Francesco Francia und Matteo da Milano am Ghislieri-Stundenbuch ausgefallen war, widmete sich Susanne Rischpler (Bamberg) der Frage, ob Friedrich Pacher auch Buchmaler war. Der Impuls für die Diskussion um die Identität von Tafel- und Buchmaler ging von der rezenten Zuschreibung einer Miniatur (Neustift, StiB, Cod. 194, f. 70v) an den in engem Bezug zu Michael Pacher stehenden Friedrich Pacher aus. Durch Vergleiche mit zeitgleicher Südtiroler Tafel-, Wand- und Buchmalerei begründete Rischpler Zweifel an der Identität von Tafel- und Buchmaler und schrieb die bewusste Miniatur stattdessen einem Illuminator zu, der unter dem in Neustift omnipräsenten Pacher-Einfluss stand und dort Anfang des 16. Jahrhunderts weitere Werke schuf.

Drei Fallstudien beleuchteten die Rolle einzelner Auftraggeber für die Ausstattung prominenter Buchprojekte. Beatrice Alai (Florenz) stellte den außergewöhnlichen Fall des 1492 bei Laurentio de Rubeis in Ferrara auf Veranlassung des Herzogs Ercole d’Este gedruckten Breviers vor, von dem nur drei auf Pergament gedruckte Exemplare erhalten sind, während der erhaltene Vertrag 244 Exemplare umfasste und belegte, dass der Herzog für den speziell mit päpstlicher Genehmigung gedruckten Text große Reichweite anstrebte. Ein einer Handschrift täuschend ähnliches Pergamentexemplar mit reicher Ferrareser Buchmalerei (Beinecke Library) war dagegen wahrscheinlich sein persönliches, von Hand illuminiertes Exemplar.
Noch spezieller als in Ferrara ist die Planung von Texteditionen und Ausstattungen für verschiedene Interessen bei der von Edina Zsupán (Budapest) vorgestellten Thuróczy Chronik nachvollziehbar. Die von János Thuróczy verfasste und in erster Auflage im März 1488 in Brünn gedruckte Chronica Hungarorum, deren Bericht mit der ungarischen Eroberung Wiener Neustadts endet, erschien in zweiter Auflage im Juni 1488 in Augsburg mit Widmung an König Matthias in drei Varianten; einer einfachen Auflage, einer Luxusausgabe auf Pergament und einer Ausgabe für deutsche Leser, in der die Eroberungen habsburgischer Gebiete fehlen. Matthias Corvinus‘ Widmungsexemplar (Budapest, OSZK, Inc. 1043) gehört zu den wenigen überlieferten Inkunabeln der Bibliotheca Corvina. Hauptverantwortlich für die Illuminierung war einer der kleineren Meister der Budaer Hofwerkstatt.
Marina Bernasconi Reusser (Fribourg) beschrieb die 1485 vom neu gegründeten Kapitel des Berner Münsters in Auftrag gegebene Illuminierung zweier Handschriften eines mehrbändigen Antiphonars als Sprungbrett für die weiteren Karrieren von zwei beteiligten Künstlern: Der „Meister des Jost von Silenen“ genannte Buchmaler war in der Folge zwischen Bern, Ivrea und Aosta tätig, während der Buchschmuck des namentlich bekannten Schreibers und Illuminators Konrad Blochinger später bespielweise in der Baseler Rektoratsmatrikel, in Chorbüchern in Meißen und Regensburg sowie in Inkunabeln zu finden ist. Anschließend wurde allerdings kontrovers diskutiert, ob die frühen Handschriften- und Druckdekore dem wandelbaren Blochinger selbst zuzutrauen oder einem Vorgänger zuzuschreiben sind.
Die folgenden vier Vorträge waren unter dem Sektionstitel „Ikonographische Herausforderungen“ zusammengefasst. Zunächst ging es um die Bebilderung ungewöhnlicher Texte und buchunabhängige Bilder.
Dominique Vanwijnsberghe (Brüssel) präsentierte mit der komplexen Bebilderung des Frontispizes für das Cartular des Jakobusspitals in Tournai (Tournai, BV, ms. 27) eine neu zu findende Ikonographie für die spezielle Gattung der Sammlung von Urkundenabschriften. Der Meister des Dresdner Gebetbuchs bediente sich offenbar diverser Schrift- und Bildquellen für die komplexe Darstellung der Pilgerriten in Santiago de Compostela in der Hauptminiatur, umgeben von Szenen aus der Legende des Hl. Jakobus. Zahlreiche Details der Miniatur reflektieren subtil die von Raumschwellen und Berührungszeremonien geprägten Pilgerhandlungen, während die überaus präsente Lilien-Heraldik das Bekenntnis zur französischen Krone in den Vordergrund rückt.
Unter dem Titel „Der Einzelzettel als Labor für das Schöne. Vielfältige Experimente in der kleinen Form“ zeigte Martin Roland (Wien) anschließend eine Fülle von Einzelblättern mit Druckgraphik und Miniaturen (mit und ohne Text) im Zusammenspiel unterschiedlicher Bildmedien, die zum Teil nachträglich in Bücher eingebunden wurden, ursprünglich aber so unterschiedlichen Funktionskontexten angehörten wie Entwürfen für unterschiedliche Objekte, Wappenbriefen, Aushängen, Handzetteln, Urkunden sowie der privaten oder öffentlichen Andacht. Deutlich wurde, dass im Medium des Einzelblatts vielfältige Bildexperimente möglich waren, wobei die Kategorisierung der sehr unterschiedlichen Blätter nach Form und Funktion für eine systematische Forschung noch manche Schwierigkeiten bereitet.
Im zweiten Teil der Sektion zu humanistisch geprägten Bildprogrammen diskutierte zuerst Carmen Rob-Santer (Wien) die unterschiedlichen Illustrationen gedruckter Terenz-Ausgaben in Ulm, Basel, Lyon, Straßburg, Venedig und Paris als „visuelle Kommentare“ vor dem Hintergrund der antiken Überlieferung und zeitgenössischen Bildrhetorik mit Einzelszenen, Szenengruppen, graphischen und textlichen Verweissystemen sowie Bühnensimulationen, die vermutlich nicht eine Aufführungspraxis abbilden, sondern dieser vorausgehen.
Im Anschluss präsentierte Armand Tif (Wien) den Transfer humanistischer Illustrationskonzepte zwischen Leipzig, Nürnberg und Wien anhand einer Gegenüberstellung ästhetischer und ideologischer Absichten bei den Adaptionen druckgraphischer Vorlagen für die Bildinitialen der bis 1512 entstandenen Dekanats- und Promotions-Matrikel B 1 der Artistenfakultät der Universität Leipzig. Dabei diskutierte er die Rolle der von Konrad Celtis in Nürnberg und an der Universität Wien ins Leben gerufenen Poetenschulen für Entwicklung und Austausch der ikonographischen Programme und zeigte, dass der Wunsch zur Aufnahme humanistischer Ideen, wie im Fall des Musenbrunnens vom Programmblatt des Wiener Collegium Poetarum, bei den Leipziger Dekanen nicht unbedingt vollständiges Verständnis voraussetzte, wie die Fehler in der griechischen Inschrift bei Dekan Johannes Tiburinus offenlegen.
Der zweite Konferenztag begann mit einer zweiteiligen Sektion zum Thema Innovation, Tradition und Transfer. Den Anfang machte Laura Nuvoloni (London) mit einem materialreichen Überblick über mehrere europäische Buchkulturen unter dem Titel “Innovation and Continuity: The Fifteenth-Century European Book as an Object Carefully Designed to Balance Tradition and Evolution”, in dem sie exemplarisch darlegte, wie die Entwicklung des gedruckten und handgeschriebenen Buchs im 15. Jahrhundert in Schrift, Bild und Layout einerseits von langlebigen Traditionen und Konventionen zur Bebilderung unterschiedlicher Texte geprägt war und andererseits manchmal auch Neuerungen im Druck die weitere Handschriftenentwicklung in neue Bahnen lenkten.
Christine Seidel (Berlin) erläuterte eine neue Entwicklung der parallelen Lektüre von Bildern und Texten, die der Buchmaler Jean Colombe in Bourges zuerst in dem hochkomplexen, in mehreren Ausstattungskampagnen entstandenen Bildprogramm des Stundenbuchs des Louis de Laval (Paris, BnF, lat. 920) auf jeder Seite arrangierte und die in vereinfachter Form wenig später auch im Pariser Stundenbuchdruck vorkommt. Sie zeigte auf, wie Colombe, der die von den Brüdern Limburg begonnene Bebilderung der Très riches Heures (Chantilly, MC, ms. 65) vollendete, die dort bereits angelegte Psalmillustration mit vielfältigen Anregungen aus anderen Texten (Bible historiale, Bible moralisée; Boccaccio, Cas des nobles) und anderen Bildmedien (Glasmalerei, skulptierte alttestamentliche Zyklen der Kathedrale in Nantes) zu dieser im Stundenbuch neuartigen und wohl einzigartigen Bilderfülle verband, die in verschiedener Lesart Bild für Bild und Seite für Seite, aber auch in Verbindung mit den Texten, rezipierbar ist.
Jan Dienstbier (Prag) führte die Diskussion der Marginaldekoration im späten 15. Jahrhundert anschließend nach Böhmen und erläuterte am Beispiel der Kuttenberger Gradualien (NKP XXIII A2, ÖNB Mus. Hs. 15492, ÖNB Mus. Hs. 15501), wie die utraquistischen Auftraggeber im letztlich auf der Tradition des 14. Jahrhunderts beruhenden Initial- und Marginaldekor der Gradualien sehr unterschiedliche Anregungen verbanden – durchaus katholische Tradition, zahlreiche aktuelle Übernahmen aus deutscher Graphik von Meister E.S., Schongauer, Israhel van Meckenem oder aus Buchholzschnitten – und für schier endlos variable, oft humorvolle Bilder der Populärkultur mit Alltagsriten, Gendersatiren, Sprichwörtern, sexuellen Anspielungen, traditionellen Grotesken und Hybriden verwendeten. Wie ihre Vorläufer an den Rändern von Psaltern und Gebetbüchern konstituieren diese textbegleitenden Bilderfluten, die oft nicht (mehr) unmittelbar lesbar sind, abseits des dominanten religiösen Konflikts einen festen Bestandteil der Bildkultur.
Die nächsten beiden Vorträge behandelten das Phänomen lokaler Erneuerung durch Transfer und Adaption importierter Buchkunst in Katalonien um 1500. Mittels akribischer Bucharchäologie und Stilanalyse legte Francesca Manzari (Rom) die Schichten der außergewöhnlich komplexen Entstehungsgeschichte eines Stundenbuchs frei, das Ende des 14. Jahrhunderts in Mailand begonnen, ein Jahrzehnt darauf in einer zweiten Kampagne ebendort weiter bebildert und in einem dritten Bearbeitungsschritt im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts in Norditalien in entwickelten Renaissanceformen weiter ergänzt wurde, um schließlich gegen 1500 in Katalonien – möglicherweise erneut in zwei Phasen – von lokalen Buchmalern vollendet zu werden (Den Haag, KB, ms. 76.F.6). Bemerkenswert an den verschiedenen Fertigungskampagnen ist besonders die hohe Wertschätzung des älteren Stils, der noch in Spanien die Ergänzungen nur dort sofort evident werden lässt, wo der Buchmaler nicht auf eine Stilvorlage zurückgreifen konnte.
Josefina Planas (Lleida) stellte anschließend ein weiteres, bislang ganz unbekanntes katalanisches Stundenbuch vor (Barcelona, Patrimoni artístic Fundació “la Caixa”), für dessen Ausstattung die spanischen Buchmaler vornehmlich niederländische Anregungen aus verschiedenen Stilphasen der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts kombinierten: franko-flämische Rankenbordüren vor Pergamentgrund mit blau-goldenem Akanthus, Blumendekor und einzelnen Figuren, illusionistische Streublumenbordüren und mit wenig Blau akzentuierten Grisailledekor, der besonders an Werke von Willem Vrelant erinnert. Das Beispiel machte unter anderem deutlich, wie viele Werke noch in kleinen und privaten Sammlungen verborgen sind. Sie werden daher in aktuellen Katalogisierungskampagnen publiziert und somit zum besseren Verständnis der katalanischen Buchmalerei beitragen.
Die sensible Adaption unterschiedlicher, vornehmlich italienischer und mitteleuropäischer graphischer Vorlagen führte danach Regina Cermann (Wien) anhand eines bemerkenswerten, noch kaum bekannten Mainzer Buchmalers vor, für den sie erstmals ein Oeuvre chronologisch präsentierte. Allein für sein Hauptwerk (Wien, ÖNB, Cod. 1912), für das sie anhand einer Stifterdarstellung Kardinal Albrecht von Brandenburg als Auftraggeber wahrscheinlich machen konnte, zeigte Cermann viele geschickt arrangierte Einzelübernahmen nach Dürer, Raimondi, Bordon, sowie nach italienischen Ornamentstichen und Holzschnittbordüren für Initialen, Miniaturen und den im Wechsel mit Streublumen und Architekturmotiven besonders kunstvoll und eigenständig gestalteten Randdekor. Den in der Diskussion vorgebrachten Zweifel, ob die atemberaubend inszenierte Totenoffizminiatur von einem anderen Maler stammt, konnte vornehmlich der Vergleich mit kleinen, nahezu avantgardistisch atmosphärischen Landschaften auf anderen Seiten entgegengehalten werden, die Parallelen nur in zeitgleicher niederländischer Tafelmalerei aufweisen.
Die beiden Vorträge der nächsten Sektion waren der prägenden Rolle von Künstlern bei der Konzeption illustrierter Drucke gewidmet. Ina Nettekoven (Bonn/Basel) zeigte in ihrem Beitrag, dass die Pariser Buchgraphik seit den 1480er Jahren aus der Buchmalerei heraus entwickelt wurde und bis ins 16. Jahrhundert in parallelem Austausch dazu blieb, da die Entwerfer wohl alle Buchmaler waren. Ihre Identifizierung bereitet jedoch besonders bei eng verwandten Künstlern wegen des Einflusses der Formscheider Schwierigkeiten. Im Vortrag wurde dies am Beispiel der Entwürfe der frühen 1490er Jahre für die Verleger Vérard, Du Pré und Vostre dargelegt, deren ikonographisch ungewöhnliche Modelle größtenteils aus dem Repertoire der jüngst als François le Barbier ([Maitre] François) und François le Barbier fils (Maitre de Jacques de Besançon) identifizierten Buchmaler stammten. Der Stilvergleich erwies, dass der jüngere le Barbier, der zwar häufig Drucke mit Miniaturen versah, wohl dennoch nicht als Entwerfer in Frage kommt, sondern der anonyme Meister des Kardinals de Bourbon die engsten Parallelen aufweist, während wieder andere Buchmaler eng verwandte bilderreiche Bebilderungskonzepte in Stundenbuchhandschriften umsetzten.
Caroline Zöhl (Wien) wandte sich danach dem gedruckten Gebetbuch Kaiser Maximilians I. zu, dessen berühmtestes Exemplar (München, BSB und Besançon, BM) ab 1514 in Nürnberg, Wittenberg, Freiburg, Augsburg und Regensburg farbige Randzeichnungen von Dürer, Cranach, Baldung, Burgkmair, Breu, und Altdorfer erhielt, aber (wie andere Projekte Maximilians) weder im Druck noch im Dekor fertig wurde. In einer Tour de Force durch die umfangreiche, jüngst wieder sehr belebte Forschung, präsentierte Zöhl Argumente für und wider die These, Zeichnungen und Reglierung dieses Exemplars dienten der Vorbereitung eines illustrierten Drucks. Die formale und ikonographische Diversität des Dekors spricht nicht gegen einen Druckplan. Farbdruck von je einer Platte, der den Zeichnungen entspräche, wurde ab 1457 für Initial-Fleuronnée (Schöffer, Mainzer Psalter), 1472 für Randdekor (Augsburg, Bämler) und um 1490 auch für den Bilddruck in mehreren Farben erprobt (Paris, Jean Du Pré). Im Licht aktuellen Austauschs über Clair-obscur und Golddruck zwischen Augsburg und Wittenberg könnte z.B. Konrad Peutinger Interesse an der technischen Umsetzung der Zeichnungen in den Druck gehabt haben. Als Auftraggeber für den aufwendigen Künstlerwettbewerb um die Ausstattung eines unikalen Exemplars käme statt Maximilian auch Albrecht von Brandenburg in Frage, dessen Ehrentitel auf dem Besançoner Einband zu finden sind (vgl. Pfändner 2016).
Die abschließende Sektion zum Thema "Stundenbuch – Krise oder Erneuerung?“ bestritten Roger Wieck (New York) und Eberhard König (Paris). Roger Wieck unterzog das mit ganzseitigen, typologisch gegenübergestellten „Diptychen“ innovativ ausgestattete Briçonnet-Stundenbuch, ein auch von ihm selbst bislang um 1485 angesetztes Frühwerk von Jean Poyer, erneuter Prüfung. Ausgehend von der nicht erfolgten Abstimmung von Rahmung und Kolorit der gegenüberliegenden Bildseiten und dem Umstand, dass einige noch traditionelle Textanfänge haben, während andere von vorne herein als reine Bildseiten eingerichtet wurden, stellte er die These auf, das Buch sei zunächst mit kleineren Bildern geplant gewesen und erst später auf Briçonnets Veranlassung umgestaltet worden. In der von Lukas mit modischer Frisur portraitierten Maria zum Gebet „O Intemerata“, könnte Briçonnet Wieck zufolge erst nach 1492 seiner verstorbenen Frau durch Poyer ein Gedenkbild geschaffen haben, so wie Fouquet die Madonna im Melun-Diptychon mit dem Gesicht von Agnes Sorel, der Geliebten Karls VIII., versah.
Eberhard König betrachtete im letzten Vortrag Buchexperimente in Format und Form vom Codex Rotundus über winzige Formate bis zum Lilienstundenbuch für das französische Königshaus unter Heinrich II. Mehrere extrem kleinformatige Stunden- und Gebetbücher, teils in mehrfacher Halbierung des kleinsten Sedez, von denen König zur Anschauung einige im Faksimile mitgebracht hatte, entstanden zwischen ca. 1498 und 1525 für Anne de Bretagne und ihre Töchter Claude und Renée de France. Diese exzentrischen Bücher, deren kleinstes, stellenweise mit bloßem Auge nicht mehr lesbares Exemplar (sog. Stundenbuch der Maria Stuart, Abtshausen) König trotz fehlender Provenienz auch mit dem Königshaus verbindet, waren gewiss Kostbarkeiten, die man vielleicht in aufwendig gestalteten Einbänden (einige Goldschmiedeeinbände sind anderweitig erhalten) mit sich führte. Sie könnten nach Königs These allerdings auch mit extremer Kurzsichtigkeit in der weiblichen Linie zusammenhängen, wobei die Frage offen blieb, wie so kleine Schrift überhaupt herstellbar war.
Statt einer allgemeinen Diskussion debattierten zum Abschluss der Tagung König und Wieck auf dem Podium ihre divergierenden Erklärungen zur unterschiedlichen Gestaltung und Datierung des Gebetbuchs (New York, ML, M 1166) und des Stundenbuchs (zuletzt Bibermühle, Tenschert) für Claude de France, deren erstes vollständig historisierte Bordüren hat, während das zweite eine nüchternere Renaissanceausstattung mit symbolischen Bordüren erhielt: Einfluss reformatorischen Gedankenguts oder Abkehr von den erzählenden Bildern der Kindheit?
Caroline Zöhl, Armand Tif, Marie Theisen   Fotos: Institut für Kunstgeschichte