Die Anfänge der Kunstwissenschaft und die Techniken der Reproduktion

Sobald einem Kunstwerk neben seiner religiösen oder politischen Funktion auch ein künstlerischer Wert zugemessen wurde, stellte sich die Frage der Reproduzierbarkeit. Die älteste Form war die jahrhundertelang an Akademien auch zur Schulung betriebene Form des Kopierens mit dem Zeichenstift oder dem Pinsel. Die Erfindung der Drucktechniken von Holzschnitt, Kupferstich und Radierung erweiterten seit dem 15. Jahrhundert nicht nur die technische Qualität, sondern auch die Quantität der Reproduktionen. Diese Möglichkeiten wurde im Rahmen des Buchdrucks bald auch zur Illustration der Reiseführer, Sammlungskataloge sowie Publikationen der Geschichtswissenschaft und Archäologie genutzt. Für dreidimensionale Objekte bediente man sich schon seit der Antike der Möglichkeit des Abgusses mit Metall oder Gips, und solche Nachbildungen lieferten seit dem Ende des 17. Jahrhunderts auch den Grundstock für das Lehrmaterial der Wiener Kunstakademie. Das Londoner Victoria & Albert Museum erweiterte diese Methode in der Mitte des 19. Jahrhunderts um Abformungen von mittelalterlichen und neuzeitlichen Kunstwerken.

Der seit 1847 an der Universität und seit 1851 an der Akademie lehrende erste Wiener Kunsthistoriker (zunächst Privatdozent und ab 1863 Ordinarius) Rudolf Eitelberger von Edelberg veranlasste bereits bei seinem Amtsantritt an der Akademie eine Neuaufstellung und Erweiterung der Gips-Sammlung. Parallel dazu verwies er bei seinem Antrag zur Einrichtung einer Professur für Kunstgeschichte am 24. Juni 1851 darauf, dass er „das Gipsmuseum der Akademie und andere dort befindliche Kunstwerke für die Universität Wien nützen könnte“. Wenige Tage später erläuterte er Minister Leo Graf von Thun- Hohenstein ausführlich seine Absicht zur Errichtung einer Sammlung von Gipsabgüssen als Anschauungsmaterial sowohl für die Universität als auch für die Akademie. Bereits 1856 wurden Abformungen mittelalterlicher Plastiken in St. Stephan in Auftrag gegeben, und aufgrund der Bestrebungen zur Errichtung eines Gipsmuseums österreichischer Kunstwerke entstanden ab 1862 verstärkt Abgüsse von Reliquien, Kelchen und anderen mittelalterlichen Werken des Kunstgewerbes.

Im Vorlesungsverzeichnis der Wiener Universität vom SS 1855 finden wir erstmals den Hinweis, dass Eitelbergers Lehrveranstaltung über antike Kunst im Gipsmuseum der Akademie stattfand. Zehn Jahre später (WS 1864/65) wurden die inzwischen von einem eigenen Professor betreuten Archäologie-Vorlesungen der Universität weiterhin in der Akademie abgehalten, während Eitelberger mit den Studenten der Kunstgeschichte ins neue Kunstgewerbemuseum abgewandert war, dessen Sammlung zunächst teilweise aus in London erworbenen Gipsabgüssen bestand und damals im Ballhaus bei der Hofburg untergebracht war. Das von Eitelberger 1863 gegründete „k.k. Museum für Kunst und Industrie“ (heute MAK) war insgesamt nach Londoner Vorbild gestaltet worden und hatte schon in der kaiserlichen Gründungsakte den Auftrag bekommen, eine „photographische Anstalt und eine Gypsgießerei“ einzurichten. Die Objekte des Kunsthistorischen Institutes verweisen auf diesen historischen Kontext: ein Gipsabguss besitzt einen Aufkleber der „Arundel Society“, während der Abguss des französischen Elfenbeinaltärchens aus dem 1. Drittel des 14. Jahrhundert als Produkt des Wiener Kunstgewerbemuseums unter der Leitung von Moriz Schroth nachweisbar ist.
Einen weiteren wichtigen Beleg für die Beschäftigung mit Gipsabgüssen gibt es im Zusammenhang mit dem 1. Internationalen Kunsthistorikerkongress 1873 in Wien. Bei der ebenfalls im Kunstgewerbemuseum abgehaltenen Veranstaltung wurde auch die Frage von Fotos und Reproduktionen sowie des Copyrights diskutiert. Eitelberger äußerte damals sein Interesse an neuen, den Gipsabguss übertreffenden dreidimensionalen Reproduktionsformen.

Dem Einsatz von Reproduktionen und Gipsabgüsse in der Frühzeit der Kunstgeschichte war 2020 in Budapest die von Júlia Papp  kuratierte Ausstellung „Present of Ferencz Pulskzy. Engraving, Plaster Cast, Photograph – Chapters from the History of Artwork Reproduktion“ gewidmet, bei der auch einige Leihgaben der Gipssammlung unseres Instituts präsentiert wurden. Diese Schau im Lutheran Central Museum wurde zwar von der Coronopandemie überschattet, aber ein 45-seitiger Katalog dokumentiert die Erkenntnisse. Den Ausgangspunkt bildete der diesbezügliche Naschlass von Ferencz Pulszky von Cselfalva und Lubácz (1814-1897), der eine Ausbildung als Jurist und Archäologe erhielt. 1848 wurde er Finanzstaatssekretär der ungarischen Revolutionsregierung und musste daher 1849-66 in England im Exil leben. Nach seiner Rückkehr widmete er sich vor allem seinen Studien und wurde u.a. zum Vizepräsidenten der ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie zum Großmeister der Großloge von Ungarn ernannt. Die kunstwissenschaftliche Sammlung Pulszkys umfasste zahlreiche Fotografien des Engländers John Brampton Philpot u.a. von Elfenbeinreliefs, aber auch Alben aus dem Besitz seines Onkels Gabriel Féjérváry mit gezeichneten Reproduktionen der Wiener Künstler Wolfgang Böhm und Josef Bucher.

Beide Künstler waren ebenso wie die eben genannten ungarischen Sammler Mitglieder des sogenannten „Böhm-Kreises“, dem auch Eitelberger angehörte. Der 1794 in Ungarn geborene kaiserliche Medailleur Joseph Daniel Böhm war sozusagen der Großvater der Wiener Schule der Kunstgeschichte, da er den Übergang von der Kunstkennerschaft des Künstlers und Sammlers zu jener der jungen Wissenschaft markiert. Und Pulsky, dessen Onkel Besitzer einer berühmten aztekischen Handschrift war, vermittelte Eitelberger nicht nur die neuen englischen Reproduktiontechniken, sondern auch die Idee einer „Weltkunstgeschichte“.

Die Technik der handschriftlichen Reproduktion wurde jedoch weiterhin auch von Eitelberger und im Rahmen des neuen Denkmalamtes eingesetzt, um entlegene oder bisher unbekannte Kunstwerke durch den Druck dieser Zeichnungen einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Einige aus der Zeit um 1865 und diesem Kontext stammende Zeichnungen der mittelalterlichen Fresken in Gurk und Piesweg wurden vor einiger Zeit im Archiv unseres Institutes entdeckt, mit Hilfe einer Finanzierung der Zentralstelle für die Sammlungen der Wiener Universität restauriert und mitllerweile auch in der Österreichischen Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege publiziert.

Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten Techniken der Lithographie sowie Fotografie haben die Möglichkeit der Vervielfältigung von Kunstwerken wesentlich vereinfacht und verbessert. Die neuen kunsthistorischen Institute verfügten daher auch bald über Fotosammlungen, während die sogeannten Lichtbilder am Wiener Institut offensichtlich erst 1909 von Professor Josef Strzygowski eingeführt wurden. Sowohl diese Publikation als auch die ungarische Ausstellung tragen dem in den letzten Jahren international gestiegenen Interesse an der Frühzeit der Wissenschaft und den damals angelegten Sammlungen der Universitäten Rechnung.

Friedrich Polleroß    Fotos: Institut für Kunstgeschichte