Max Dvořák - 100. Todestag

Vor zwei Jahren fand die erste Konferenz des Kunsthistorischen Instituts der Akademie der Wissenschaften in Prag über die „Wiener Schule der Kunstgeschichte“ statt. Deren Vorträge wurden inzwischen großteils publiziert, darunter auch ein Bericht über die Archivalien zu tschechisch-österreichischen Kunsthistoriker*innen in unserem Institut. Dieser Bericht kann u.a. um weitere Quellen zu Max Dvořák ­ ergänzt werden: Denn auch im Nachlass von dessen Lehrer Franz Wickhoff hat sich eine circa 160 Briefe und Postkarten umfassende Korrespondenz des Studenten bzw. Assistenten aus den Jahren 1899 bis 1909 erhalten (Karton 2). Die Anreden beginnen mit  "Hochgeehrter Herr Professor" und enden mit "lieber Max". Neben zahlreichen Ansichtskarten und Briefen aus der Heimatstadt Raudnitz (Abbildung) berichtete der junge Kunsthistoriker von seinen Reisen nach Avignon (Abbildung), Lemberg und Krakau. Er sandte außerdem Weihnachts- sowie Neujahrswünsche.

Anlässlich des 100. Todestages von Max Dvořák war die im April 2021 stattfindende zweite Konferenz der Prager Akademie – leider nur im Internet abgehalten und von einer Ausstellung begleitet (Abbildung) – dem Vermächtnis dieses Ordinarius gewidmet. Nach der Begrüßung durch den Coorganisator Tomáš Hlobil, der die nächste Konferenz in zwei Jahren wieder analog abhalten möchte, berichtete Csilla Markója aus Budapest, die schon mehrfach über die Kunsthistoriker des Budapester „Sonntagskreises“ publiziert hat, über die „Alltageschichte“ des Ordinarius bzw. aus dessen „Apparat“, wo es offensichtlich eine gewisse Hierarchie unter den Studierenden und ein eigenes Zimmer für die Frauen gab. Als Quelle dienten der Referentin Briefe von Johannes Wilde, der einerseits aus seiner Studienzeit 1915-17 und dann auch sozusagen vom Sterbebett seines Professors berichtet hat. Wilde war mit seinen Studienkollegen und Freunden Frederick Antal sowie Arnold Hauser Mitglied des ungarischen „Sonntagskreises“, an dem auch der revolutionäre Volkskommissär Georg Lukács teilnahm. Dessen Ehefrau Gertrúd Bortstieber hat ebenso am Wiener Institut studiert wie Wildes spätere Ehefrau Julia Gyárfás, die 1921 ein Referat über Dürers angebliche Romreise verfasst hat (Abbildung).

Der Prager Marek Krejčí berichtete über die letzten Wochen des Ordinarius und verwies in diesem Zusammenhang auf einen anderen Freundeskreis des Kunsthistorikers, nämlich aus dem habsburgertreuen Adel. Dvořák war nicht nur im Lobkowitz-Schloss in Raudnitz aufgewachsen, sondern auch ein enger Mitarbeiter des Thronfolgers. Zu den Freunden des Professors zählten Adelige wie Fürst Liechtenstein, der das barocke Kreuz für das Grab des Kunsthistorikers stiftete (Abbildung), Fürst Lanckorońnski, der Kreuzensteiner Graf Wilczek und der „Seniorstudent“ Graf Khuen-Belasi, in dessen mährischem Schloss Emmahof Dvořák 1921 auch verstorben ist. In der Diskussion wurde auf die kuriose Mischung von jungen jüdischen Revolutionären sowie alten Adeligen hingewiesen, und ebenso wie bei der letzten Tagung schaltete sich auch diesmal wieder eine Nachfahrin in die Diskussion ein, nämlich Frau Yonna Yapou-Kromholz, die Tochter der erst 2016 verstorbenen Dvořák-Schülerin Edith Hoffmann, der ersten weiblichen Herausgeberin des Burlington Magazine.

Ivan Gerát von der Akademie in Bratislava verglich Dvořák mit Lenin und Freud bezüglich der Bewertung von sakraler Kunst. Analog zum Kunsthistoriker, der an der Erzählung von Moses seine Thesen von Idealismus und Neuplatonismus sowie den Gegensatz von geistigen und materiellen Werten diskutierte, habe Freud am Beispiel des Goldenen Kalbes die Frage der Idolatrie aufgegriffen. Hier könnte vielleicht die Kunstsoziologie des Dvořák-Schülers Hauser ihren Ausgang genommen haben. Die Wiener Kollegin Barbara Czwik widmete sich der Diskussion um „Weltanschauung“ versus „Weltauffassung“ bei Dvořák, Karl Mannheim und Rudolf Carnap.

Rostislav Švácha von der Prager Akademie beschäftige sich mit Dvořáks Verhältnis zur modernen Architektur im Rahmen der Denkmalpflege. Als Quintessenz lässt sich wohl herauslesen, dass es bereits damals um den erst später gesetzlich verankerten und inzwischen wieder verwässerten Ensembleschutz von Altstädten ging, und dass moderne Architektur sensibel auf ihre Umgebung reagieren sollte. Dvořáks Schüler Zdenek Wirth hatte in Prag einen Verein zur Erhaltung der Altstadt gegründet, dem auch der Architekt Pavel Janák angehörte. Und dieser lieferte mit seinem kubistischen Haus in der schönen Altstadt des Kleinstädtchens Pelhřimov ein verblüffendes Beispiel für diese Verbindung von zeitgenössischer Architektur und Ensembleschutz.

Michael Young widmete sich neuerlich dem Prager Dvořák-Schüler Oskar Pollak und dessen Projekt einer Borrominimonographie, wobei er auf Materialien des Wiener Archives zurückgreifen konnte. Bemerkenswerterweise haben sich nach dem Ersten Weltkrieg die Dvořákschüler Dagobert Frey und Hans Sedlmayr dann gleichzeitig mit dem römischen Architekten beschäftigt. Beide haben offensichtlich den in Wien erhaltenen Pollak-Nachlass ausgewertet, aber als ausgewiesene Nationalsozialisten - weshalb Young von einer „Germanisation“ der 2. Wiener Schule der Kunstgeschichte sprach - die Vorarbeiten des Juden Pollak nicht besonders betont. Frey hat allerdings die Überlassung des Nachlasses durch Pollaks Witwe an das Wiener Institut 1937/38 unterstützt (Abbildung).

Der zweite Tag begann mit demReferat von Koorganisator Tomáš Murár, einem ehemaligen Stipendiaten in Wien. Er widmete sich aufgrund des Studiums eines Manuskriptes im Wiener Institutsarchiv der Thematik von Michelangelo, Brueghel, El Greco und des Manierismus bei Dovřák. Angeregt durch die Beschäftigung des Philosophen Georg Simmel 1910 mit Michelangelo übertrug der Wiener Kunsthistoriker das Konzept der „menschlichen Tragödie“ der Künstlerpersönlichkeit und der Pathetik von dessen „Jüngstem Gericht“ auf die ganze „geistige Bewegung des Manierismus“ mit der Quintessenz, dass neue Erkenntnisse neue Formen nach sich ziehen.

Drei Laibacher Kolleginnen referierten über die drei slowenischen Schüler von Dvořák: France Stele, Vojeslav Molé und Izidor Cankar, die sich die Posten am Museum, an der Universität und am Denkmalamt untereinander aufteilten. Vesna Krmeil von dem nach Stele benannten Kunsthistorischen Institut der Slowenischen Akademie und Barbara Murovec widmeten sich eingehender der Beziehung zwischen Dvořák, Stele und Plečnik. Sowohl beim slowenischen Konservator als auch bei dem in Laibach und Prag tätigen Wagner-Schüler ging es zunächst vor allem um die Bewertung des Denkmalschutzes sowie der zeitgenössischen Architektur durch die junge Generation. Als Quellen dafür können zahlreiche Briefe zwischen Stele und seinem Wiener Lehrer herangezogen werden. Der Ordinarius hat sogar während der Kriegsgefangenschaft seiner Studenten in Sibirien mit diesen Kontakt gehalten. Rebeka Vidrih von der Universität Ljubljana hat sich wie schon beim letzten Mal wieder mit den Lehrbüchern bzw. der Methode von Cankar beschäftigt. Er hat die Kunstgeschichte in drei Büchern behandelt (bis 1000, bis 1400 und dann die Renaissance bis 1564; der Barockband kam nicht mehr zustande) und dabei das Verhältnis von Naturalismus und Idealismus als einen der Parameter herangezogen.

Bruno Grimschitz, der 1918 sein Studium bei Dvořák mit einer Dissertation über Johann Lukas von Hildebrandt abschloss, erhielt 1937 die Lehrbefugnis an der Universität Wien (Abbildung) und wurde 1941 zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Seine Tätigkeit während des Nationalsozialismus als Direktor des Belvedere und des Kunsthistorischen Museums wurde jüngst im Lexikon der Provenienzforschung beleuchtet. 1913 hat er sich in einer Seminar- oder Aufnahmearbeit mit Adam von Bartsch, dem ersten Direktor der Kupferstichsammlung der Wiener Hofbibliothek beschäftigt (Abbildung).

Die Zeichnungsbestände der Wiener Hofbibliothek und anderer Sammlungen standen auch im Mittelpunkt einer vom "Vienna Center for the History of Collecting" gemeinsam mit der Albertina im Juni 2021 veranstalteten Internetkonferenz „Zeichnungssammlungen in Wien und Mitteleuropa: Akteure – Praktiken – Rahmendiskurse“. In diesem Rahmen wurde auch ein anderer Schüler von Dvořák vorgestellt, der bisher kaum bekannt geworden ist, obwohl er sowohl als Kunsthistoriker als auch als Kunstsammler Beachtung verdient. Der Leiter des Center und Dekan Sebastian Schütze würdigte den aus Prag stammenden und jung verstorbenen Oswald (von) Kutschera-Woborsky. Es sind nur wenige Informationen über sein Leben bekannt und das meiste wird von dem mit ihm verwandten Rainer Maria Rilke überliefert. Eine Freundschaft bestand auch zu dem ebenfalls aus Prag stammenden Hans Tietze. 1911 schloss Kutschera-Woborsky seine Dissertation über die Kathedrale von Trau/Trogir in Dalmatien ab, und die mittelalterliche Architektur dieser Region sollte auch einer seiner Forschungsschwerpunkte bleiben. Die Originalfotos der Dissertation haben sich in der Fotosammlung des Institutes erhalten (Abbildung). Während des Ersten Weltkrieges war er mit dem Kunstschutz in Friaul betraut. Aus dieser Zeit bestand auch ein Kontakt mit dem Studienkollegen Antonio Morassi.

Ein zweiter Forschungsschwerpunkt von Kutschera beschäftige sich mit der italienischen Malerei vorwiegend des späten 17. sowie 18. Jahrhunderts und insbesondere mit den Regionen, mit denen auch ein intensiverer Kunsttransfer mit Österreich bestand, nämlich Venedig und Neapel. Aus diesem Bereich stammen auch viele seiner Kunstankäufe, darunter ein Madonna von Solimena, welche er dem Kunsthistorischen Museum vermachte (Abbildung). Seine Zeichnungssammlung umfasste mehrere hundert Stück, darunter Arbeiten von Barocci, Fontebasso, Diziani, Pierin del Vaga und Andrea Pozzo. Von den in Italien geschulten Österreichern sind u.a. Rottmayr, Strudel, Troger sowie aus dem späten 18. Jahrhundert Schmutzer und Füger vertreten. Ein Teil dieser Graphiken wurde offensichtlich von einem Bestand aus Neapel über Mailand nach Österreich gebracht. Die Kunstsammlung vermachte Kutschera mit Testament vom 1. Jänner 1922 der Albertina, dem Belvedere, der Galerie der Akademie und dem Kunsthistorischen Museum.

Die Bibliothek und den wissenschaftlichen Nachlass überließ der Kunsthistoriker dem Institut seines Lehrers (es gab damals 2 Institute). Zusätzlich stiftete er dem Institut 300.000 Kronen. Die entsprechenden Verordnungen waren im Testament festgelegt und wurden dem Institut am 4. Juli 1922 vom Ministerium bekannt gemacht (Abbildung): „Der am 8. April l J. verstorbene Dr. Oswald KUTSCHERA hat dem Kunsthistorischen Apparat der Universität Wien, Lehrkanzel Dworak (bzw. dem Kunsthistorischen Institut, das an dessen Stelle treten würde, gelegentlich der Neuordnung der Lehrkanzel wegen des Todes Dworaks) den Betrag von 300.000 Kronen vermacht, über deren Auszahlung die Leitung seinerzeit eine Verständigung erhalten wird. Zu Gunsten des gleichen Institutes sind ferner die nachfolgenden Bestimmungen getroffen: Meine Mansukripte, Notizen, Zettelkataloge, Photographien und meine gesamte Bibliothek vermache ich dem kunsthistorischen Apparat (der Lehrkanzel Dworak der Universität Wien). All das soll als ein gesonderter Bestand in einem eigens dazu eingeräumten verschlossenen Raum aufgestellt werden und nur absolvierten Kunsthistorikern zur Benützung dienen. Für die Aufstellung der Bücher vermache ich dem kunsthistorischen Apparat daher meine sämtlichen Bücherstellagen, und auch die beiden Bibliothekskasten mit den Glastüren. Die in meinem Testament von 15. April 1921 legierte, durch das Kodizill vom 1.1.1922 auf 300.000 K erhöhte Summe soll in allererster Reihe für das Binden der wichtigsten Bücher verwandt werden. Mein schriftlicher Nachlass soll in dem auf dem anderen Kodizillblatt erwähnten Bibliotheksraum unter besonderen Verschluß in einem Kasten aufbewahrt werden und nicht allgemein zugänglich sein. Auch spreche ich mich gegen die Herausgabe nachdrücklich aus, da ein wissenschaftlich befriedigendes Resultat keineswegs zu erwarten ist. Die Sichtung bitte ich Herrn Professor Dr. Hans TIETZE und Professor Dr. Dagobert FREY zu übernehmen. […]. Meine übrigen Bücher sollen an deutschösterreichischen staatlichen Bibliotheken verteilt werden. […] Ich verfüge, daß in jedes der von mir vermachten Bücher, bzw. auf die Rückseite der Photographiekartons ein zirka 4 cm langer und 3 cm breiter Zettel mit der in schwarzer Blockschrift gedruckten Inschrift ‚Nachlaß Oswald KUTSCHERA-WOBORSKY‘ auf Kosten der Verlassenschaft eingeklebt werde.“ (Abbildung).

Unter den wertvollen Büchern befinden sich etwa das Rom-Werk von Joachim von Sandrart aus dem Jahre 1685 (aus dem Besitz des Grafen Prosper von Sinzendorf), die deutsche Pozzoausgabe von 1709 (Abbildung) oder ein Stichwerk mit akademischen Kopfstudien von Gaetano Gandolfi. Ein  den Akten beigelegter Zettel verzeichnet insgesamt 4534 Bücher, davon 2125 zur Kunstgeschichte. Dazu kamen 1992 Zeitschriften und Antiquariatskataloge sowie 6027 Fotografien (Abbildung).

Friedrich Polleroß   Fotos: Institut für Kunstgeschichte, Tomáš Murar