Objektangaben:
Titel: Karijona, Porträt eines Mannes mit Bastgürtel – Vorder- und Rückansicht
Urheber der Aufnahmen: Theodor Koch-Grünberg
Datierung der Aufnahme: 1903–1905
Technik: Glasdiapositiv
Maße: 8,1 x 8,3 cm
Provenienz: unbekannt (vermutlich aus dem „I. Kunsthistorischen Institut“ 1909–1933)
Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, Diasammlung, Inv. Nr. 425/18
Blickregime und Bildmacht: Zur Inszenierung des Anderen
Die ethnografische Fotografie gehört zu den wirkmächtigsten Instrumenten der frühen anthropologischen Forschung. Einerseits wurden um 1900 Fotografien als visuelle Belege wissenschaftlicher Theorien genutzt. Andererseits galten diese als Mittel kultureller Typisierungen.[1] In diesem Kontext entstand auch die hier untersuchte Fotografie aus dem Werk des deutschen Ethnologen Theodor Koch-Grünberg (1872–1924).
Zu sehen ist eine südamerikanische indigene Person aus dem Stamm der Karijona (auch Carijona, Karihona), die im Grenzgebiet zwischen Brasilien und Kolumbien, vor allem entlang der Flüsse Macaya und Cunyary, leben. Das Bild wurde im Rahmen einer zweijährigen Forschungsreise durch Nordwest-Brasilien aufgenommen und in Koch-Grünbergs zweibändiger Buchreihe Zwei Jahre unter den Indianern (1909, 1910) veröffentlicht. Auf einer Illustration eben dieser Publikation (Band 2, Tafel II) basiert auch das Glasdiapositv, das in der Diasammlung des Instituts für Kunstgeschichte unter der Kategorie „Südamerika/Indianer“ eingeordnet ist. In der Bilddatenbank UNIDAM wurde das entsprechende Digitalisat mit den Schlagworten „Mode/Kleidung, Schmuck, Person“ versehen und damit auf die Darstellung materieller Kultur fokussiert. Die traditionelle Kleidung ist auf dem Foto gut zu erkennen: Der von vorn und hinten dargestellte Mann trägt einen breiten Bastgürtel aus hartem Pflanzenmaterial („Hõno“).[2] Am Institut für Kunstgeschichte dürfte im frühen 20. Jahrhundert das Interesse wohl vor allem der ornamentalen Gestaltung dieser Bekleidung gegolten haben. Anthropolog*innen um 1900 zielten mit derartigen Fotografien nicht auf die Dokumentation eines mehrdimensionalen Subjekts, sondern auf die Dokumentation eines kulturell geprägten Körpers ab. Körperhaltung, Frisur, Schmuck oder Kleidung galten als sichtbare Manifestationen von Kultur, während Kontextinformationen zur Lebensweise oder zur Person selbst vollständig fehlten.[3] Das Subjekt wurde auf seine äußeren Merkmale reduziert und durch die Linse der Kamera als visuelles Objekt konstruiert.[4]
Aus gegenwärtiger Perspektive lässt sich diese Praxis auf Basis von kolonialen Machtverhältnissen kritisch hinterfragen. Zum einen hatten die fotografierten Personen keine Kontrolle über Pose, Bildnutzung oder Interpretation.[5] Zum anderen entsteht durch diese Darstellungsweise ein objektivierender Blick, der indigene Menschen auf Studienobjekte reduziert – ohne Stimme, ohne Geschichte, ohne Handlungsmacht.[6]
Zugleich muss Koch-Grünbergs Tätigkeit aber auch vor dem Hintergrund seiner Zeit gelesen werden. Seine Fotografie war Teil eines umfassenden Projekts, das sich der Idee verschrieben hatte, Kultur im Sichtbaren zu erfassen. Fotos wie dieses sollten in Museen, Vorträgen oder Publikationen eine möglichst „unmittelbare“ Erfahrung fremder Kulturen ermöglichen.[7]
Gerade diese Ambivalenz macht das Bild aus gegenwärtiger Perspektive so interessant: Es steht exemplarisch für eine frühe ethnografische Praxis, die wissenschaftliche Neugier, pädagogischen Anspruch und koloniale Ordnung miteinander verknüpfte – und deren Wirkung bis heute in Museen, Archiven und Debatten über kulturelle Repräsentation nachvollziehbar ist.
(Magdalena Grabenbauer)
[1] Vgl. Lee 2009, S. 3.
[2] Vgl. Koch-Grünberg 1910, S. 112–114.
[3] Vgl. Kabatek 2015, S. 50.
[4] Eine solche Objektifizierung bzw. eine solche soziokulturelle Grenzziehung lässt sich ebenso mit dem Begriff des Othering beschreiben. Othering bezeichnet dabei Praktiken der Fremdmachung, bei denen bestimmten Gruppen durch systematische Zuschreibungen eine abweichende, „andere“ Identität zugeschrieben wird – oft mit ausgrenzender Wirkung (Vgl. Freuding 2022, S. 17).
[5] Vgl. Reinert 2017, S. 403.
[6] Vgl. Belting 2001, S. 19.
[7] Vgl. Kabatek 2015, S. 47.
Literatur:
Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001.
Freuding 2022
Janosch Freuding, Fremdheitserfahrungen und Othering. Ordnungen des »Eigenen« und »Fremden« in interreligiöser Bildung, Bielefeld 2022.
Kabatek 2015
Wolfgang Kabatek, Dokumentationsfuror und Rasterverfahren. Vom Umgang mit anthropologischen Fotografien, in: Tanja Nusser/Elisabeth Strowick (Hg.), Rasterfahndungen. Darstellungstechniken - Normierungsverfahren - Wahrnehmungskonstitution, Bielefeld 2015, S. 35–54.
Koch-Grünberg 1910
Theodor Koch-Grünberg, Zwei Jahre unter den Indianern. Reisen in Nordwest-Brasilien 1906/1905, Band 2, Stuttgart 1910.
Lee 2009
Young Woo Lee, Zwischen Anthropologie und Fotografie. Problem der frühen anthropologischen Fotografie bis in die 1920er Jahre, in: Marilena Thanassoula/u.a. (Hg.), Beiträge zur 2. Kölner Afrikawissenschaftlichen Nachwuchstagung, 2009, URL: www.uni-koeln.de/phil-fak/afrikanistik/kant/data/Lee-KANT2.pdf
Reinert 2017
Kathrin Reinert, Indianerbilder. Fotografie und Wissen in Peru und im La Plata-Raum von 1892 bis 1910, Wiesbaden 2017.
