Kunstgeschichte & Weltkrieg I

Der vor 100 Jahren ausgelöste Erste Weltkrieg hat als „erste Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ nicht nur in den Archiven staatlicher Einrichtungen, sondern auch in zahlreichen Familienarchiven seine Spuren hinterlassen. Daher finden sich auch in unserem Institutsarchiv Hinweise auf die Ereignisse dieser Zeit.

Zwei sehr persönliche Quellen haben sich im Nachlass von Univ.-Prof. Dr. Julius von Schlosser (1866-1938) erhalten. Der Sohn eines aus Böhmen stammenden Oberstabsarztes war seit 1889 am heutigen Kunst- historischen Museum sowie seit 1901 als Extraordinarius und von 1922-36 als Ordinarius an unserem Institut tätig. 1893 hatte er sich mit Amalia Wilhemine Hecke (1871-1921) vermählt, die 1899 den Sohn Johann (1899-1971) geboren hat. Dieser führte offensichtlich während seiner Schulzeit am Melker Stiftsgymnasium seit 1. Juli 1914 ein erstes Ferien-Tagebuch, welches er seinem „Papa zum Andenken“ widmete. Die Eintragungen beginnen mit einer teilweise kunsthis- torischen Schilderung des Stiftsgebäudes („ein Deckengemälde des Malers Anton Truger“, recte Paul Troger). Nachdem Johann seinen „geringen Patriotismus“ eingestanden hat, berichtete er über die am 3. Juli in der Stiftskirche abgehaltene Trauerfeier für den ermordeten Thronfolger: „Trauergottesdienst für Erzherzog Ferdinand fand statt. ….. ist es ein Kirchengang an dem man über eine Stunde stehen muß. Der Katafalk stand in der Mitte um den die Priester- schaft dreimal unter Gebet gieng. Der Tag vergieng unter Einbacken der Zöglinssachen. Die Nacht nahte heran und es sollte der Leichnam die Strecke passieren. Traurig tönte die Glocke von ½ 12 – ¼ 1 in die Nacht und noch schaurig kann ich die Töne, doch lange nicht so wundervoll, am Klavier nachbilden.“ Am nächsten Tag wurde Melk von Gerüchten vom angeblichen Fund einer Bombe und Serben in Nonnenkleidern erschreckt, während die Konviktschüler Abschied feierten. „Und feierlich wurde die Volkshymne am Bahnhof gesungen, während der Zug einfuhr, denn wir wollten für den Kaiser sterben, so sagten viele, doch es ist nicht geschehen. Ist es nun eine Fabel oder haben die Serben aus Furcht oder aus … nicht gewagt, die braven Melker in die Luft zu sprengen?!!????? (Mord am 28. Juni)“. Im Unterschied zu vielen seiner Schulfreunde vertrat Johann von Schlosser offensichtlich eine Friedenshoffnung: „Von nah und ferne strömen herbei/ Die Völker im Lande. Es sei/ Der Fried ihnen beschieden! Es eint sie die Hymne des Volkes hienieden.“ Am 25. Juli vermerkt das Tagebuch: „Ultimatum an Serbien. Abends kein Telegramm an eine Freundin Juckis (= Die Schwester Julie?) über Frieden oder Krieg.“ Am nächsten Tag schien ihm ein stürmisches Gewitter „vielleicht eine Vordeutung des Zerfalles Österreichs“. Ebenfalls unter dem 26. Juli folgt die Notiz „Der Krieg wurde hiemit erklärt und es hieß die Österreicher seien schon in Belgrad einmarschiert.“ Tatsächlich erfolgte die Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien erst am 28. Juli. Der Weltkrieg war jedoch nicht mehr aufzuhalten und das Tagebuch vermerkte eine Kriegserklärung nach der anderen. Trotz seiner Friedensgesinnung musste auch der Sohn des Kunsthistorikers im Alter von 17 oder 18 Jahren in den Krieg ziehen, aus dem er aber unverletzt heimkehrte. Zu Weihnachten 1918 verfasste er vermutlich als Geschenk für seinen Vater ein handschriftliches Bändchen mit 19 Gedichten, darunter „Der letzte Ritt“, „Heldenfriedhof“ und „Als Österreich zerfiel… (Ode an Z…)“.

Wie die gesamte Bevölkerung waren auch Universität und Institut von den kriegsbedingten Sparmaßnahmen und Einschränkungen betroffen. Schon am 2. Dezember 1915 wurde ein Erlass des Ministeriums über die „Ablieferung von Metallgeräten aus staatlichen Gebäuden“ verlautbart. Am 10. Jänner 1916 informierte der Rektor das Institut vom Beschluss des akademischen Senates, die „Errichtung eines Denkmals für die auf dem Felde der Ehre gefallenen Akademiker in Aussicht zu nehmen“. Dies sollte auch Studierende einbeziehen. Am 9. Februar 1916 folgte eine Verlautbarung über die Weiterbezahlung von Bezügen an Hochschulassistenten im Militärdienst, welche jedoch aufgrund eines Erlasses vom 26. April ebenso wie die Beamten wieder vom Kriegsdienst befreit wurden. Da die Finanzmittel des Institutes im Verwaltungsjahr 1916/17 um ein Drittel gekürzt wurden, ersuchte Instituts- vorstand Univ.-Prof. Dr. Max Dvořák am 6. Dezember 1916 um Aufhebung der Kürzung, da ohnehin nur die für den Lehrbetrieb nötigsten Bücher und Diapositive angeschafft würden. Einsparungen von Licht und Brennmaterial sollten durch die Einführung der Sommerzeit 1916 und 1917 sowie durch Sperre der Institute um 20 Uhr ab 12. November 1917 erreicht werden. Im März 1918 wurde vom Dekan der Philosophi- schen Fakultät ersucht, den Studienplan so zu ändern, dass auch die erst im Sommersemester aus dem Felde heimkehrenden Studenten ihre Vorlesungsverpflich- tungen aus dem Wintersemester nachholen könnten.

Der Erste Weltkrieg hatte jedoch auch inhaltlich-methodische Auswirkungen auf die Lehr- und Forschungstätigkeit der Kunstgeschichte. Als Vorstand des erst 1912 separierten II. Kunsthistorischen Institutes beklagte Prof. Dvořák am 6. November 1917 in einem Brief an das Ministerium die finanziellen und politischen Folgen für den Ankauf neuer Literatur: „Der Krieg hat diesen im Ausbau der Bibliothek eingetretenen Mißstand nun noch in kritischer Weise verschärft. Bis zum Kriegsbeginn war nämlich das kunstgeschichtliche Studium in vorwiegender Weise an Hand der italienischen Kunstwerke betrieben worden, die zu jener Zeit am besten geeignet waren, die studierende Jugend in das Wesen der Kunstgeschichte einzuführen. Aus diesem Grunde nahmen die Neuanschaffungen der Bibliothek darauf Bedacht, in erster Linie die sich mit der italienischen Kunst beschäftigende Literatur zu ergänzen, sodass bei dem Mangel an Mitteln die anderen Gebiete nur allzusehr vernachlässigt werden mußten. Durch den Krieg wurde nun eine wesentliche Verschiebung des kunstgeschichtlichen Arbeitsfeldes hervorgerufen. Das italienische Material ist nicht mehr in jenem Maße zugänglich, um die Grundlage zu größeren Seminar- und Dissertationsarbeiten bieten zu können. Vor allem aber ist durch die neue Weltlage das wissenschaftliche Interesse für die mitteleuropäische Kunst in hohen Maße gewachsen. Und gerade diese war bisher nur sekundär berücksichtigt und bei den Ankäufen der Bibliothek zurückgestellt worden. Die Ausfüllung dieser großen Lücken ist zur Aufrechterhaltung eines gesunden, sich in den angezeichneten neuen Richtlinien bewegenden Lehrbetriebes dringend nötig.“ Vielleicht aus der Not eine Tugend machend bezeichnete es der böhmische Kunsthistoriker als vordringlich, „an deutschen Denkmalinventaren jene von Sachsen, Schlesien, Ostpreußen, Schleswig Holstein, Elsaß Lothringen“ sowie Bücher über die Handzeichnungen Dürers und Rembrandts anzuschaffen. Den geänderten politischen Zeitgeist hatte Prof. Dvořák jedoch schon 1916 bemüht, als er in einem Schreiben vom vom 8. April 1916 an das Ministerium um Förderung seines Projektes zur Erfassung der frühchristlichen Sarkophage in Konstantinopel durch Dr. Ernst Buschbeck (1889-1963) bat: „Wir haben begonnen das Material zu sammeln, welche Arbeit durch den Krieg unterbrochen wurde. Nun bestand eine grosse Schwierigkeit in der Aufnahme der Denkmäler, die sich auf dem Balkan, in Kleinasien und in dem ferneren Osten befinden. Diese Schwierigkeit dürfte heute oder unmittelbar nach dem Kriege wesentlich geringer sein, wie sich ja auch im Zusammenhang mit den verschiedenen Aktionen, die in Deutschland, in Ungarn und wohl auch bei uns eingeleitet wurden, um die Bande, die uns mit unseren Verbündeten im Osten verknüpfen, auch auf dem Gebiete der wissenschaft- lichen Forschung zu festigen, für die Durchführung dieser Arbeit für das grosse Sarkophagencorpus der günstige Augenblick bieten dürfte.“ Da das Ministerium offensichtlich den Antrag nicht bewilligte, verwies der Institutsvorstand in einem weiteren Schreiben vom 28. Dezember neuerlich auf die Konkurrenz bzw. Kooperation mit den an der Seite Österreich kämpfenden Ländern: „Es ist bekannt, wie viel nach dieser Richtung hin in Konstantinopel von reichsdeutscher und ungarischer Seite geschehen ist, sodass eine offizielle Beteiligung Österreichs ohne Zweifel sehr erwünscht ja vielleicht unbedingt notwendig wäre.“

„Kunstgeschichte als symbolische Eroberung“ – so der Titel eines Vortrages von Maximilian Hartmuth - war natürlich vor allem ein Thema für den Gegenspieler Dvořáks, Univ.-Prof. Dr. Josef Strzygowski, Vorstand des I. Kunsthistorischen Institutes und einer der ersten Erforscher der armenischen Kunst. Schon 1913 hatte er eine Expedition in den russischen Teil des Gebietes organisiert. Die Ergebnisse dieser Forschungsreise sollten in einem umfangreichen Buch publiziert werden, dessen Finanzierung natürlich ebenfalls durch den Krieg erschwert wurde. In einem undatierten Subventionsansuchen verwies er ausdrücklich auf die vor allem vom Deutschen Reich betriebene kunsthistorische Kolonialisierung: "Von Deutschland werden ungeheure Mittel in Bewegung gesetzt um der wirtschaftlichen Ausbreitung durch wissenschaftliche Vorarbeit, die dem nationalen Empfinden entgegenkommt, die Wege zu bahnen. Vor allem sind es die Kunstdenkmäler in den occupierten Ländern, die sofort auf das Eifrigste studiert und veröffentlicht werden. Zugleich gehen Expeditionen in alle Teile Asiens, um in dieser Richtung vorzuarbeiten. Ich bin in der Lage, das selbst für Afghanistan zu belegen. Jetzt arbeitet man in der Ukraine, sobald der Weg über den Kaukasus offen sein wird, kommt unfehlbar Armenien als wichtigster Übergang nach Persien und Indien, und mit  Umgehung Sibiriens nach China an die Reihe. (...) "Armeniens altchristliche Kuppelbauten" zeigt (...), dass Armenien eine ausschlaggebende Rolle für die Entwicklung der christlichen Kunst und der Baukunst in Europa überhaupt gespielt hat. Wir gewinnen mit diesem Nachweis eine wichtige moralische Stütze, um mit dem bedeutendsten Handelsvolke des Orients, den Armeniern, in enge geistige Beziehung zu treten und arbeiten so der wirtschaftlichen Durchdringung dieses Volkes von österreichischer Seite in nicht hoch genug anzuschlagender Weise vor." In einem undatierten Schreiben wandte sich der Kunsthistoriker sogar an Kaiser Karl I. persönlich, wobei er die moralische Verpflichtung der Monarchie aufgrund des Schweigens zum 1915/16 erfolgten jungtürkischen Völkermord betonte. Gerade wegen des österreichischen Bündnisses mit der Türkei propagierte Strzygowski daher die Publikation als eine Art Wiedergutmachung am armenischen Volk. „Wir tun damit, dass wir die Armenier völlig der türkischen Willkür ausliefern, nichts Gutes, können aber etwas von dieser Haltung wieder gut machen, wenn wir wenigstens den hohen Wert der christlichen Kultur Armeniens wie ich ihn in meinem Werk herausgearbeitet habe, anerkennen.“ Ob mit kaiserlicher Unterstützung oder nicht, noch 1918 konnten die beiden Bände "Die Baukunst der Armenier und Europa" erscheinen. Mitarbeiter an der Publikationen des Ordinarius waren nicht nur dessen Assistent Heinrich Glück (1889-1930), sondern auch der ab 1911 in Wien studierende Armenier Léon Lissitzian und der Architekt Thoros Thoramanian (1864-1934).

Durch diese beiden Armenier war Strzygowski unmittelbar mit dem Schicksal des nicht nur vom osmanischen Völkermord, sondern auch von der russischen Revolution bedrohten Volkes verbunden. In einem Brief vom 25. Jänner 1920 berichtete Lissitzian seinem Lehrer Strzygowski auch von den Auswirkungen der politischen Umstände auf die kunsthistorische Arbeit: „Vor zwei Monaten kehrte ich aus Armenien, wo ich als Offizier in einem unserer Regimente tätig war, nach Tiflis zurück, um mich wieder und ich hoffe jetzt für lange, der wissenschaftlichen Arbeit zu widmen. Ich nehme namentlich an den Arbeiten der sogenannten „Wissenschaftlich-ökonomischen Expedition nach Armenien der Brüder Mailoff“ teil. Natürlich lässt sich die lange Pause in meiner wissenschaftlichen  Arbeit spüren: die Volontierbewegung gegen Türken, die Brüderhilfe den Flüchtlingen, dann ein ziemlich kurzer Aufenthalt bei Prof. Marz in Petrograd unterbrochen durch die militärische Schule, russischen und dann armenischen Offiziersdienst mit Revolution und Politik, - das alles hat Jahre gekostet. (…) Auf Auftrag der Mailoff’schen Expedition schreibt jetzt Thoramanian eine ausführliche Monographie über Zwarthnotz. Er lebt in Alexandropol, sein Materielles ist schlechter denn immer: die Türken haben sein Haus, Bibliothek, einen Teil seiner Negative und fertiger Manuskripte (Armenisches architektonisches Wörterbuch, über die Stellen und Grabsteine u.a.), einige alte Silberstücke, Hausgerät ruiniert und geplündert. Mit seiner Frau und seinen Kindern floh er nach Tiflis.“ Während der armenische Architekt aber immerhin sein Leben retten konnte, kam der junge Kunsthistoriker nur ein Jahr später ums Leben. Als Armenien 1918 zu einer selbständigen Republik geworden war, wurde Léon Lissitzian zum Leiter eines wissenschaftlichen Institutes in Etschmiadsin ernannt, das auch für die tausenden armenischen Handschriften der Klöster verantwortlich war, die heute in Jerewan verwahrt werden. Das bedeutendste Werk dieses Bestandes ist das 1891/1911 von Josef Strzygowski sowie 2001 von Heide und Helmut Buschhausen bearbeitete Etschmiadsin-Evangeliar aus dem 6. oder 7. Jahrhundert. Im Februar 1921 übernahmen jedoch konterrevolutionäre Nationalisten die Macht, und von diesen wurde der junge Kunsthistoriker am 18. Februar 1921 gefoltert und hingerichtet. Das erfahren wir aus einem Brief, den die Witwe Héléne Nazarben-Lissitzian am 15. Dezember des Jahres an den Wiener Kollegen Heinrich Glück sandte: „Léon fut d’abord arreté, puis fussillé après avoir été torturé par les insurgents.“ Der an Prof. Strzygowski weitergeleitete Brief enthält auch ein Foto des Ehepaares.

Der Erste Weltkrieg und der Zusammenbruch der Monarchie hatten aber nicht nur praktische Auswirkungen für das Institut für Kunstgeschichte und seine MitarbeiterInnen, sondern intellektuelle Folgen für die Wiener Schule der Kunstgeschichte und die Wiener Schule der Denkmalpflege. Diese geistigen Krisensymptome in der Kunstgeschichte im Allgemeinen und bei Max Dvořák, Julius von Schlosser, Josef Strzygowski und Hans Tietze im Besonderen wurden bereits mehrfach analysiert: von Matthew Rampley (2003), Jonathan Blower (2009), Edwin Lachnit (2011) und zuletzt von Georg Vasold (2013). Hingewiesen sei auch auf den Aufsatz von Lukas Cladders "Gustav Glücks Kontakte zu den Museumsleuten und Kunsthistorikern nach dem Ersten Weltkrieg" in biblos 63/2014 (ab S. 111).

Friedrich Polleroß   Fotos: Institut für Kunstgeschichte